Interview für den Tagesspiegel mit Erzbischof Dr. Heiner Koch
Herr Erzbischof Koch, gerade in Krisenzeiten wie diesen sind in der Adventszeit die Kirchen besonders voll. Wie voll sind Sie derzeit?
Ausgehend von einem niedrigen Niveau zum Ende der massiven Corona-Einschränkungen werden die Kirchen wieder voller. Ich will mich mit Blick auf Weihnachten auch mit denen versöhnen, die sich durch die Corona-Schutzmaßnahmen verletzt und ausgegrenzt fühlen und deshalb noch nicht wieder kommen. Ich stehe zu dem, was wir in der Situation entschieden und umgesetzt haben, um unserer Verantwortung gerecht zu werden. Ich weiß aber von Verletzungen, die ich bedaure.
Und wenn Sie jetzt mit der Zeit vor fünf Jahren vergleichen?
Warten wir mal Weihnachten ab, bevor wir über Zahlen sprechen. Was mir schon jetzt – gerade im Gespräch mit Jugendlichen – auffällt: die Menschen sind ernster und nachdenklicher geworden, viele sind auch erschöpft. Neben Corona hat das verschiedene Gründe: der Krieg gegen die Ukraine, die Energiekrise, die Kluft zwischen Arm und Reich und die drängenden Umweltprobleme. Viele spüren, dass populistische Antworten nicht mehr funktionieren, dass wir nicht alles im Griff haben.
Die Ungeduld der „Letzten Generation“ zu Klimaschutz und Bewahrung der Schöpfung teilen viele, ihre Methoden nicht. Wie stehen Sie zur „Letzten Generation“?
Den durch sie geäußerten Vorwurf an meine Generation muss ich ernst nehmen: Wir haben zu spät und zu zögerlich gehandelt, um die Schöpfung zu bewahren; ich habe Verständnis für die Ungeduld. Aber „Rechtsbruch bleibt Rechtsbruch“, wie es auch Bischof Stäblein bereits formuliert hat.
Wie passt in diese Situation die Botschaft von Weihnachten?
Diese Situation löst die Frage nach dem Sinn des Lebens aus und stellt auch die Weihnachtsbotschaft vor diese Frage. Sie gilt es für mich auszuhalten, weil ich keine einfache Antwort auf sie habe. Aber ich halte daran fest, dass alles einen Sinn hat, gerade in einer Stadt wie Berlin, in der viele Menschen sagen, mit dem Tod sei alles aus. Die Weihnachtsbotschaft hält dagegen: Es gibt einen Sinn, es gibt eine Perspektive, es gibt Zuversicht, die in Gott ihren Grund hat, der unser Leben in seinen guten Händen hält – auch über den Tod hinaus. Und der an unserer Seite mit uns durch das Leben geht. Anders formuliert: Es gibt mehr Liebe als Du denkst!
Kommt diese Botschaft in einer Zeit, in der die katholische Kirche aus Sicht vieler Gläubiger in der Identitätskrise steckt, noch bei genügend Menschen an?
Die Weihnachtsbotschaft ist größer als die Krise der Kirche, ein Beispiel: Als die Frau eines bekennenden Agnostikers starb, fragte mich ihr Mann, ob ich zur Beerdigung kommen könne mit der Begründung: „Wenn Sie nicht kommen, steht keiner am Grab mit Ihrer Hoffnung“. Es war kein kirchliches Begräbnis, ich habe kein Wort gesagt, aber es war gut, dass ich da war mit meiner Hoffnung.
Wenden sich also gerade in solchen Zeiten sogar wieder mehr Menschen der Kirche zu?
Nach jedem Gottesdienst suchen die unterschiedlichsten Menschen das Gespräch über all diese drängenden und brennenden Fragen, auch Nicht-Christen. Wenn wir als Kirche diese Fragen zulassen und einen Ort bieten, wo Ängste und Zweifel, Sorgen und Nöte nicht ungehört verhallen, kommen wir wieder ins Gespräch auch mit denen, die die Institution infrage stellen.
Unter den ukrainischen Flüchtlingen sind tausende Christen. Stellen Sie fest, dass in den katholischen Gemeinde viele dieser Menschen kommen?
Viele aus der Ukraine geflüchtete Menschen sind orthodox, es gibt aber auch zahlreiche Katholische Ukrainer des byzantinischen Ritus. Sie haben in Berlin eigene Gemeinden, wir sehen sie aber auch in unseren Gottesdiensten. Viele unserer Gemeinden haben Begegnungs-Cafés, Hilfezentren und andere Begegnungsmöglichkeiten geschaffen, haben private Quartiere organisiert, auch in unseren Schulen gibt es einen starken Zulauf an Schülerinnen und Schüler, aber auch einzelne Lehrkräfte.
Wo werden Sie an Heiligabend predigen?
Mein Heiligabend beginnt im Gefängnis in Moabit, wo ich mit den Gefangenen in zwei Durchgängen Weihnachten feiere. Das ist ein Angebot nicht nur für die Christen unter den Gefangenen. Weihnachten im Gefängnis, das geht an die Substanz, wie ich in Gesprächen im Anschluss merke. Am Nachmittag feiere ich Heiligabend mit den Besuchern der Suppenküche der Franziskaner in Pankow. Die ökumenische Christvesper um 15.00 Uhr im RBB wird am Vortag aufgezeichnet. Den Höhepunkt bildet für mich die Christmette in St. Joseph im Wedding, dem aktuellen Ersatzort für die Sankt Hedwigs-Kathedrale.
Haben Sie denn für Katholiken, die auf eine Reform der katholischen Kirche hoffen, eine frohe Botschaft?
Ich habe für alle Katholiken mehrere frohe Botschaften: An erster Stelle geht es um Jesus Christus, um eine innere Freude am Christsein. Darauf baut Kirche auf. Und dann gilt für Weihnachten, was für die ganze Kirche gilt: So wie sich das Weihnachtsfest entwickelt hat, so entwickelt sich auch Kirche weiter. Man sieht immer wieder etwas neu. Den Mut dazu möchte ich allen machen.
Sie sind ein Befürworter des synodalen Wegs, auf dem nicht wenige den Priesterberuf für Frauen öffnen möchte. Sie sind für viele Gläubige, die dringend Reformen wünschen, ein Hoffnungsträger. Wie groß schätzen sie grundsätzlich die Chancen ein, dass die Idee des synodalen Wegs erfolgreich ist?
Vom Besuch der deutschen Bischöfe „Ad Limina“ in Rom bin ich zuversichtlich zurückgekehrt: Synodalität ist der richtige Weg für die Kirche. Es ist ein Prozess, bei dem man aufeinander hört und einander versteht, aber auch ein Prozess des Streitens, des Argumentierens und des Entscheidens. Und das wird weitergehen. Eine Kirche, die aufhört synodal zu sein, ist mehr tot als lebendig.
Es gab die Kritik, dass es zu wenig ermutigende Signale gegeben habe.
Der Besuch war nicht einfach, und auch die Konsequenzen sind schwierig. Aber bei dem Besuch kamen alle Streitpunkte auf den Tisch, wir haben offen miteinander gesprochen. Wir haben unterschiedliche Standpunkte auch in der Kirche in Deutschland und dürfen auch diese Phase des Ringens nicht überspringen. Wenn der Weg fruchtbar sein soll, dann braucht es Phasen, in denen es auch mal stockt.
Im März 2023 findet die letzte Synodalversammlung des Synodalen Wegs in Deutschland statt, anschließend wird der synodale Prozess auf europäischer Ebene in Prag diskutiert.
Das, was in Rom besprochen wurde, werden wir im März weiter diskutieren. Ich sehe auch, dass in ganz Europa um ähnliche Fragen gerungen wird. Insofern ist dies ein sinnvoller nächster Schritt.
Die Rückmeldungen aus dem Vatikan zu dem Besuch der 62 deutschen Bischöfe waren eher defensiv.
Das würde ich nicht sagen, ich habe die Positionierungen eher offensiv empfunden, sie haben sicherlich manche enttäuscht, waren aber sehr klar.
Gut, aber welche Kritikpunkte hat der Vatikan am synodalen Weg geäußert?
Allgemein formuliert ist es die Sorge, dass die Kirche den sakramentalen Grundzug ihrer selbst aufgibt. Kirche ist ja keine parlamentarische Gesellschaft, die von Menschen gemacht ist, sie ist uns von Christus anvertraut . Es ist die Sorge im Vatikan, dass die Kirche die Botschaft Gottes aufgibt, etwa wenn sie die Priesterweihe auch Frauen spendet.
Aber wie sehr kommt denn im Vatikan an, dass aktive katholische Frauen rebellieren, weil sie endlich gleichberechtigt sein wollen? Also auch als Priesterinnen arbeiten möchten. Die Basis kann doch nicht ignoriert werden.
Ich weiß auch von Frauen in der katholischen Kirche, die ausdrücklich keine Priesterinnen wollen. Sie sind dankbar für das römische Stoppschild. Gleichzeitig war ich in Rom überrascht, wie gut die Kardinäle über die Situation in Deutschland informiert waren; sie verstehen, wie wenig Verständnis wir ernten, wenn wir sagen: Weil Du Frau bist, sind Dir bestimmte Dinge nicht möglich, und dass uns das die Verkündigung der Frohen Botschaft erschwert. Aber sie bleiben dabei: Wir können als Kirche nicht ändern, was uns anvertraut ist. Und dennoch: auch in dieser Frage muss das Gespräch weitergehen.
Das heißt doch aber, dass der Papst und eine paar Dutzend Kardinäle Millionen von Frauen und Männer, die völlig anders denken, die im 21. Jahrhundert leben, quasi in religiöse Geiselhaft nehmen.
Der Papst hat uns die Frage gestellt, welche Macht an welches Amt gebunden ist. Vielleicht müssen wir die Inhalte der Macht und die Inhalte des Amts hinterfragen. Ich glaube nicht, dass wir einfach so Kirche weiterleben können, auch vor uns selbst müssen wir das sagen. Aber dann müsste sich in dieser Frage etwas deutlich ändern, damit Frauen nicht mehr sagen: Wir sind machtloser als Männer, nur weil wir Frauen sind.
Bei welchen Forderungen des synodalen Wegs halten Sie am ehesten eine Veränderung in der Weltkirche für möglich?
Das kann ich vor Beginn der Weltsynode und ihren Gesprächen nicht sagen. Ich hoffe aber auf Mut und Weitsicht und Kreativität.
Welcher Punkt wäre Ihnen denn am wichtigsten?
Mir ist die Verkündung der Botschaft Gottes am wichtigsten, und damit verbunden die Frage: Was fördert diese Verkündung, was behindert sie? Und ein nächster wichtiger Punkt: Wenn mir Menschen sagen, sie fühlten sich in der Kirche weniger geschätzt und wertvoll als andere, widerspricht das der frohen Botschaft: Jeder Mensch ist geliebt und wertgeschätzt, das ist die Weihnachtsbotschaft. Wir müssen sehr sensibel sein, was wir sagen und wie wir es sagen.
Aber wäre dann nicht die logische Konsequenz dieses Gedankens, zu sagen, Frauen sind gleich wertgeschätzt wie Männer, sie dürfen zumindest als Diakonin arbeiten?
Ganz wichtig ist, dass man den Frauen so viel Möglichkeiten zur Gestaltung gibt, dass sie nicht mehr das Gefühl haben und die Erfahrung machen, sie würden nicht wertgeschätzt.
Aber Diakonin können Sie nicht werden, da ist eine Grenze des Gestaltens.
Ich weiß nicht, wohin der Weg geht, vor allem nicht, wohin uns Gottes Geist führt. Für sein Wirken bleibe ich offen. Aber ich möchte betonen, dass mir in der Wertschätzung jeder Mensch wichtig ist, egal, welche sexuelle Orientierung oder Religion er hat. Jeder Mensch auf dieser Welt ist wertvoll und bedeutend.
Aber schon der Priestermangel und damit die Zahl der Menschen, die die Botschaft Gottes verkünden können, spricht ja dafür, dass die Kirche mehr Menschen die Möglichkeit gibt, diese Botschaft zu verbreiten. Frauen stehen bereit, sie zu verkünden.
Da sage ich aber ganz entschieden: Verkündung ist die Aufgabe eines jeden Christen!
Aber sie werden nicht ernsthaft erwarten, dass ein katholischer Bäckermeister im Alltag die Botschaft Gottes verkündet. Abgesehen davon, dass man ihm dabei gar nicht zuhören würde. Glaubhaft für Laien sind da nur Priester.
Ich glaube, dass der Bäckermeister in seinem Alltag ein sehr glaubhafter Verkündiger sein kann. Denken Sie an die Hirten in Betlehem, die die Botschaft auch weiter erzählt haben.
Die Zahl der Kirchenaustritte ist enorm. Haben den Papst diese Zahlen wirklich erreicht oder sind sie für ihn Statistik?
Erreicht hat es ihn bestimmt. Die große Frage ist jetzt, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Er würde aber auf keinen Fall sagen, macht etwas als Werbegag, damit ihr mehr Leute findet. So ein Gedanke ist mir auch fremd. Ich würde immer sagen: Ist es uns von Christus anvertraut, dann müssen wir es lebendig und in Treue weitergestalten. Schon deshalb hoffe ich, dass die Synode nicht unter Zeitdruck gesetzt wird.
Die Frage ist, ob die Kirche noch so viel Zeit zum Nachdenken hat oder ob ihr in der Zwischenzeit nicht viele Gläubige den Rücken kehren?
Für mich ist entscheidend, wie wir gut und bereichernd miteinander umgehen und miteinander zu Ergebnissen kommen. Die entscheidende Frage ist nicht, wie lange das dauert, auch wenn ich die Ungeduld von vielen verstehen kann. Die Frage ist ja auch: Was werden die machen, deren Positionierung sich nicht durchsetzt? Und die zweite Frage wird sein: Finden wir miteinander neue Wege?