40 Jahre nach ihrer Gründung beansprucht die Partei eine Führungsrolle
„Was ich eigentlich will, ist Verantwortung übernehmen“, erklärte Grünen-Chef Robert Habeck, als seine Partei während der ersten Monate der Corona-Pandemie als Opposition oftmals zum Zuschauen gezwungen war. Es ist nur ein Beispiel dafür, dass die Grünen-Spitze sich bereits im Bundestagswahlkampf befindet. Sie hat das Ziel ausgerufen, in allen Bereichen führend die politische Debatte zu treiben.
Die einstige „Anti-Parteien-Partei“ ist vier Jahrzehnte nach der Gründung zum festen Bestandteil des deutschen Parteiensystems geworden und beansprucht explizit eine Führungsrolle. Sie ist an elf von sechzehn Landesregierungen beteiligt und es scheint unrealistisch, dass ohne ihre Beteiligung die nächste Bundesregierung zustande kommt. Im Zusammenhang mit den Demonstrationen und den Debatten im Zuge der „Fridays for Future“-Klimaschutzbewegung verzeichneten die Umfrageinstitute einen enormen Sprung der Grünen. Die Erfolge der Partei bei der Europawahl 2019 oder zuletzt bei der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, steigern ebenso die Ambitionen in der Partei.
Das wird auch durch die Entscheidung der Berliner Grünen deutlich, die sich mit Bettina Jarasch für eine Kreuzberger Realpolitikerin entschieden haben, die Mitglied des ZdKs und ehemalige Referentin des Berliner BDKJ ist – und dies bei ihrer Bewerbung nicht verschweigt.
Der Weg mit diesen klaren Ambitionen war so weder geplant noch gewollt – weder von den heterogenen Gründern der Partei selbst, die sich fern des politischen Establishments verstanden, noch von ihren politischen Gegnern. 1983 erstmals in den Deutschen Bundestag gelangt und von den etablierten Parteien für nicht koalitionsfähig befunden, hatten sich die Grünen zunächst als neue Kraft im Politbetrieb zu behaupten. Seit 1990 heißt die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“, was für Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, und von 2009 bis 2013 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), mehr ist als eine Reminiszenz an die Bürgerbewegung der DDR: „Die Idee des Bündnisses (…) ist von einer historischen Selbstbeschreibung zu einem Zukunftsversprechen geworden. Die Volksparteien verlieren ihre Bindewirkung, in Deutschland und in anderen gewachsenen Demokratien erst recht. Unser Bündnis bekennt sich leidenschaftlich zu seinen Zielen – die Rettung von Umwelt und Klima, die Bewahrung unseres Planeten.“
Die „Bewahrung der Schöpfung“ ist auch Anknüpfungspunkt an kirchliche Gruppen. Allerdings kam es erst 1997 zu einem ersten offiziellen Gespräch zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der Deutschen Bischofskonferenz, kurz vor ihrer ersten Regierungsbeteiligung. Das kommende Jahr wird zeigen, wie sich diese Partei zwischen Avantgarde und Anpassung positionieren wird.
Michael Wedell ist nach Stationen beim BDKJ und beim Diözesanrat im Ehrenamt Sprecher des Sachbereiches Wirtschaft und Soziales des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Beruflich ist er Partner bei der internationalen Unternehmensberatung Brunswick Group. Nach dem Studium der katholischen Theologie und Politikwissenschaften war er u.a. Vorstandsreferent der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. In dem von ihm zusammen mit Georg Milde herausgegebenen Buch „Avantgarde oder angepasst? Die Grünen – eine Bestandsaufnahme“, blicken nicht nur prominente Köpfe der politischen Konkurrenz auf die Partei sondern auch Vertreter der Zivilgesellschaft wie z.B. Bischof Franz-Josef Overbeck und Misereor-Chef Pirmin Spiegel.
Chr. Links Verlag Berlin, 352 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-96289-095-7