Bürgerrecht und Würde statt Mitleid und Almosen

Am 17. November ist der dritte von Papst Franziskus eingesetzte Welttag der Armen. Wie gestaltet sich die Lage in Deutschland? Es ist unstrittig, dass unsere Gesellschaft seit den 1980er Jahren ungleicher geworden ist. Die politische Freisetzung des Marktgeschehens hat nicht nur die Polarisierung von Einkommen und Vermögen vorangetrieben – auch die Armutsrisikoquoten sind gestiegen und die soziale Aufwärtsmobilität gleichzeitig gesunken. Trotz eines sehr dynamischen Arbeitsmarktes ist es heute schwieriger, sich aus Einkommensarmut zu befreien als noch vor zehn Jahren. Sozialpolitik ist hauptsächlich an der Mittelschicht orientiert; Menschen, die sich in einer Situation der Armut und Marginalisierung befinden, werden wieder verstärkt Ziel einer moralisierenden und pädagogisierenden Armutspolitik, die in einer monetär stabilen Absicherung von Armutslagen die Gefahren für eigennützigen Rückzug aus der Gesellschaft und kulturellen Verfall wittert. Es verwundert deshalb kaum, dass sich viele arme Menschen in den vergangenen Jahrzehnten vom politischen Geschehen abgewendet haben. Zu deutlich war das Missverhältnis zwischen dem aktivierenden Anspruch der Politik und den tatsächlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eines ersten und zweiten Arbeitsmarktes, zwischen individuellen Bedürfnissen nach Teilhabe (insbesondere bei Kindern und Jugendlichen) und den sozialhilferechtlich anerkannten Bedarfen, zwischen der hohen Bedeutung des Gutes Wohnen und den sozialen Flanken des Wohnungsmarktes bzw. der Sicherung von Unterkunftskosten in der Grundsicherungspolitik.

Auf allen politischen Ebenen – besonders aber in den Kommunen – muss der Bürgerstatus von Menschen in Armut ernstgenommen werden. Berechtigten Erwartungen der Gesellschaft müssen realistische Möglichkeiten der Teilhabe gegenüberstehen. Soziokulturelle Existenzbedürfnisse sollten über öffentliche Güter verlässlich abgesichert sein (insbesondere hinsichtlich der Wohnungsfrage) und soziale Dienste proaktiv dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein in einer sozial gerechten Gesellschaft zu sichern. Armut darf nicht dazu führen, dass Menschen in ihrem Bürgerstatus nicht mehr wahrgenommen und zum alleinigen Objekt von Mildtätigkeit und Mitleid werden.

Jens Wurtzbacher
Professor für Sozialpolitik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin