Forscher für Ernährungssicherheit über den Kampf gegen Hunger
Tilman Brück (51), Forscher für Ernährungssicherheit, wurde gerade an die Berliner Humboldt-Universität (HU) als Professor für "Wirtschaftliche Entwicklung und Ernährungssicherheit" berufen. Er soll dort ein "Zero Hunger Lab" etablieren. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihm am Montag über die Ursachen von Hunger weltweit, Probleme in der Entwicklungshilfe und wie jeder Einzelne zur Verringerung des Hungers beitragen kann.
KNA: Herr Brück, 785 Millionen Menschen weltweit haben nicht genug zu essen. Sie wollen mit Ihrer neuen Forschungsgruppe "Zero Hunger Lab" dazu beitragen, den weltweiten Hunger zu bekämpfen. Dabei geht es vor allem um die Ernährungssicherheit in Konfliktsituationen.
Tilman Brück: Ja, weil das Situationen sind, in denen Hunger besonders schwer zu bekämpfen ist. In Ländern, wo der Staat nicht funktioniert, ist das natürlich doppelt schwierig, also in Syrien oder auch in den Kriegsgebieten der Ukraine. Das ist auch für die Weltgemeinschaft eine besondere Herausforderung. Die Vereinten Nationen haben "Zero Hunger" vor Jahren als eines der nachhaltigen Entwicklungsziele formuliert. Damit haben wir alle auch eine moralische Verpflichtung, daran zu arbeiten.
KNA: Geht es bei Ihrer Forschung nur um den Hunger woanders oder auch bei uns?
Brück: Bisher habe ich mich primär mit der Hungerproblematik in anderen, konfliktbehafteten Ländern auseinandergesetzt. Ich finde es aber spannend, sich selber an die Nase zu fassen. Sowohl in Deutschland als auch in afrikanischen Ländern gibt es Überernährung, also falsche und ungesunde Ernährung und gleichzeitig auch Unterernährung. Ich finde es wichtig, dass man das Problem global betrachtet und nicht immer von der vermeintlich hohen moralischen Warte aus. Auch bei uns gibt es Kinder, die bekommen nicht genügend oder nur schlechtes Essen.
KNA: Wie helfen sich hungernde Menschen in Krisengebieten?
Brück: Hunger ist nichts, was man haben möchte. Entsprechend gibt es zum Teil sehr drastische Strategien, um Hunger zu vermeiden. Wir beobachten zum Beispiel in Syrien, dass Familien, die besonders Hunger leiden, ihre minderjährigen Töchter zwangsverheiraten. Damit müssen sie das Essen, was sie haben, mit weniger Köpfen teilen.
KNA: Hunger hat also auch soziale Folgen?
Brück: Natürlich! Vielen ist gar nicht bewusst, dass landwirtschaftliche Hilfe in Krisengebieten dazu beitragen kann, die Rechte der Mädchen dort zu stärken. Ein Programm der Welternährungsorganisation etwa hat sehr armen Familien in Syrien geholfen, ihre landwirtschaftliche Produktion durch Saatguthilfe in Gang zu bringen. Und die Familien, die diese Hilfe bekommen haben, haben eine um 80 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit gehabt, ihre minderjährigen Töchter zwangszuverheiraten.
KNA: "Zero Hunger" - kein Hunger - ist das ein Ziel, das in Ihren Augen weltweit erreichbar ist?
Brück: Ja, das ist erreichbar. Die Welt ist reicher als je zuvor. Auch wenn wir gerade denken, wir hätten eine Krise aufgrund von Corona oder dem Krieg in der Ukraine. Das durchschnittliche Einkommen der gesamten Weltbevölkerung ist so hoch wie noch nie. Und wirtschaftliches Wachstum trägt dazu bei, Armut und Hunger zu überwinden. Aber das passiert nicht automatisch, man muss was machen.
KNA: Und was?
Brück: Es gibt drei Krisentreiber von Hunger: Mangelnde Rechtsstaatlichkeit etwa in autoritären Staaten, die Klimakrise sowie Krieg und Gewalt. Wir haben viele Länder gesehen, die sich langfristig aus solchen Situationen befreit haben, auch in Europa. Wir wissen also, dass Gesellschaften in der Lage sind, bessere Lebensbedingungen zu schaffen, wenn sich alle anstrengen und zusammen arbeiten. Wir müssen viel mehr in ganzheitlichen Zusammenhängen denken. Es geht nicht nur um das genverbesserte Maisgut, das vielleicht Dürre-resistent ist - vielleicht braucht man das auch - aber wir benötigen vor allem politische Strukturen in Entwicklungsländern und entwickelten Ländern, die helfen, diese drei Treiber von Hunger zu beseitigen. Um hier voranzukommen, braucht man etwa auch eine neue Generation von Studierenden und Entscheidern, die sensibilisiert sind für diese Themen und entsprechend ausgebildet werden.
KNA: Was halten Sie von der bei europäischen Ländern als langfristige Unterstützung beliebten Hilfe zur Selbsthilfe für Entwicklungsländer?
Brück: Was ich bei der Hilfe zur Selbsthilfe nicht mag, ist so ein bisschen die Annahme, die sind zu dumm, um es selbst zu machen. Zu glauben, dass der Helfer es besser weiß, ist sehr problematisch. Wir wissen doch ganz wenig über diese Gesellschaften, auch in soziologischer Hinsicht. Es gibt oft sehr gute Gründe, warum Menschen etwas so machen, wie sie es machen, auch wenn das dann zu Hunger führt.
Wir sind zum Beispiel immer noch in kolonialen wirtschaftlichen Strukturen verhaftet. Wann sind wir denn mal nach Ostafrika gegangen und haben gefragt, wie sollte die Welt denn besser organisiert werden? Was sollen wir anders machen, damit ihr auch besser leben könnt? Etwa Handel, Infrastruktur oder Unternehmertum in Afrika fördern - das sind Bereiche, wo wir sehr zögerlich sind. Im globalen System Entwicklung - nicht nur in Deutschland - wird oft das gemacht, was schon immer gemacht wurde. Hier vermisse ich die Innovation in der Zusammenarbeit. Warum werden zum Beispiel deutsche Nichtregierungsorganisationen im Entwicklungsbereich nicht von Afrikanern geleitet? Die wären doch ein bisschen dichter dran. Die Zusammenarbeit mit den Ländern in zum Beispiel Afrika wäre einfacher, wenn wir weniger überheblich wären.
KNA: Was kann der Einzelne in seinem persönlichen Leben tun, um den Hunger in der Welt zu verringern?
Brück: Wir sind alle Teil dieser Erde, und wir benutzen sie alle gemeinsam. Dabei hängt alles mit allem zusammen: Jede Sojabohne, die wir essen und die im Amazonas angebaut wird, jedes Gas, das wir aus Russland importieren und damit die Diktatur dort finanzieren, trägt dazu bei, dass die Welt ärmer wird: Sie verliert Artenvielfalt, sie wird undemokratischer, die Stimmen der Armen werden nicht gehört. Es gibt also ganz viele Ansatzpunkte und das Verhalten jedes Menschen zählt. Und zu sagen, ach das ist doch egal, meine Stimme zählt nicht - dann werden die drei Treiber verstärkt, dann kommt es zu einer Entsolidarisierung. Und dann schaffen wir den Hunger erst recht nicht ab.
KNA: Was raten Sie also?
Brück: Etwa regionale Produkte kaufen, bei sozialen oder politischen Gruppen aktiv werden, bei Freunden seine Meinung vertreten und sagen, dass es wichtig ist, solidarisch zu sein. Denn die Grundprobleme - autoritäres Denken, autoritäres Handeln, Klimazerstörung, Gewalt - das sind alles Machtmissbrauche. Man muss versuchen, das Pendel zur anderen Seite rüberzubringen, mehr zum Guten und Sinnvollen. Die Macht muss besser reguliert werden, damit alle teilhaben können, damit alle genug zu essen haben. Dazu kann auch jeder in seinem Bereich beitragen. Dadurch schafft man dann auch Bewusstsein bei Dritten. Ich bleibe also optimistisch.