Zerbombte Städte, getötete Menschen, Kriegsverbrechen: Dass es viel Leid auf der Welt gibt, das man nur sehr schwierig oder gar nicht mit seinem persönlichen Verhalten beeinflussen oder beheben kann, ist der europäischen Gesellschaft gegenwärtig wieder sehr bewusst geworden. Warum lässt Gott Leiden zu? Und inwiefern kann Beten hier helfen? Franziskanerpater Josef Schulte (79) ist seit 36 Jahren Seelsorger in der Gemeinde Sankt Ludwig in Berlin-Wilmersdorf. Seine "Messe für Ausgeschlafene" sonntags ab 12 Uhr ist immer gut besucht. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihm am Mittwoch über Beten in Krisenzeiten.
KNA: Pater Josef, seit mehr als zwei Jahren ängstigt uns die Pandemie, und jetzt herrscht auch noch ein Krieg in Europa. Viele Gemeinden rufen deshalb zu Friedensgebeten für die Ukraine auf.
Schulte: Ja, und das wird, nach allem, was ich höre, offenbar sehr gut angenommen. Die Kirchen sind voll.
KNA: Wieso kann Beten hier helfen?
Schulte: Zunächst einmal ist es ein Zeichen nach außen. Man kann sich das wie eine Lichterkette vorstellen, die auch in ihrer Gesamtheit mehr beeindruckt als ein einzelnes Licht. Und ebenso ist auch Gebet von vielen Menschen ein sichtbareres Symbol als tausend einzelne Gebete. Außerdem geht es auch um ein gegenseitiges Stützen in dieser verunsichernden Situation. Und: Gemeinsames Beten ist auch das unsichtbare Zentrieren von Energie, die gut tut und weiter wirkt, ähnlich wie beim gemeinsamen Singen.
KNA: Es gibt ja diesen Spruch: Da kann nur noch Gott helfen. Darf man sich so aus der Verantwortung ziehen?
Schulte: Nein. Ich werde durch das persönliche Bittgebet nicht dispensiert, zur Lösung eines Konflikts beizutragen. Ich muss neben meinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten auch meine seelischen Kräfte dafür anwenden, darf nicht die Hände in den Schoß legen. Was man aber erfahren kann, ist die eigene Ohnmacht. Wichtig ist, mit dieser zu leben, aber nicht in einen dumpfen Schicksalsglauben zu verfallen. In so einer Situation kann man beten, aber nicht als Dulder des unbarmherzigen Schicksals, sondern in einer vertrauenden, es Gott überlassenden Haltung.
KNA: Sie sind Franziskaner. Beten gehört für Sie zum Alltag ...
Schulte: Ja, wir haben feste Gebetszeiten und beten einmal morgens zusammen, in den Laudes, und einmal abends, in der Vesper. Diese Gebetszeiten bilden für uns die feste Struktur des Tages. Genauso wichtig wie das Beten ist für uns aber die Seelsorge. Entsprechend gilt für uns wie etwa auch für die Benediktiner der Spruch "Bete und arbeite".
KNA: Sie sind also ein Profi, was das Beten angeht ...
Schulte: Nein, das bin ich nicht. Auch ich habe auf vieles keine Antwort.
KNA: Wie soll man beten?
Schulte: Zentral ist für mich ein Wort der Bergpredigt. "Wenn ihr betet, dann plappert nicht wie die Heiden", sagt Jesus zu seinen Jüngern. Dies hat einen direkten inhaltlichen Bezug zu dem römischen Weisen Seneca, der einmal sagte, die Heiden würden die Götter müde machen mit ihren Quengeleien. Genauso sollen wir nach christlicher Sicht also nicht beten: Nicht wie ein quengelndes Kind, das dieses oder jenes haben will - im Sinne von: Je mehr ich plärre, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich Gott erweiche und bekomme, was ich will. Dagegen kann Meditation ein Weg zum Beten sein.
KNA: Was bedeutet Beten für Sie persönlich?
Schulte: Für mich ist das Bittgebet nicht so wesentlich. Mir geht es eher um einen Grundwasserspiegel der Dankbarkeit im Sinne von "Count your blessings" - zähle Deine Segnungen. Dass man sich also bewusst macht, welche kleinen oder größeren Geschenke einem dem Tag über zugefallen sind. Das ist einem in der Hektik des Alltags nicht immer bewusst.
Im Idealfall sollte jemand, der betet, ganz bei sich selbst sein. Ich denke dabei an eine Skulptur von Ernst Barlach "Der singende Mann". Dieser verdeutlicht für mich das Beten in idealer Form: Der Mann hat die Augen fest geschlossen, den Mund geöffnet und singt - was ihm eben aus dem Herzen kommt. Er sucht sein Lied. Beten ist für mich die intensivste und tiefste Form der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung, eine Art meditatives Verweilen.
KNA: Aber macht es dann überhaupt Sinn für andere zu beten?
Schulte: Das weiß ich nicht. Aber da möchte ich mir eine gewisse Offenheit bewahren und mich nicht in falscher Sicherheit wiegen. Es gibt auch Situationen, wo Schweigen, Ratlosigkeit und Nichtweiterwissen der Weg sind ...
KNA: ... besonders wenn man daran denkt, dass Putin ja womöglich auch betet, vermutlich allerdings um andere Dinge. Welchen Sinn haben Bittgebete überhaupt, etwa Fürbitten, die in der Kirche jeden Sonntag gebetet werden? Beten um Frieden, beten um Gesundheit? Wann hilft Gott? Und wem hilft er?
Schulte: Ich glaube nicht an so ein direktes Eingreifen im Sinne einer Automatik: "Jetzt bete ich drei Rosenkränze und dann funktioniert das". Beim Beten verhalten wir uns manchmal infantil, und sind geleitet vom magischen Denken, nicht weit weg vom Aberglauben. Außerdem finde ich die Einstellung "Jetzt habe ich schon so oft gebetet und es hilft nicht", ein bisschen kleinkariert. Mir ist das zu viel Habenwollen.
Der Mensch ist von Natur aus religiös. Und so ist auch das Beten einzuordnen. Im Gebet werde ich der, der ich bin. Beten kann damit anfangen, dass jemand innehält und staunen kann. Und auch Nichtbeten gehört manchmal zum Leben dazu. Mir hat mal jemand gesagt: Die Zeiten ohne Gott in meinem Leben waren für mich die besten auf dem Weg zu ihm. Die Entwicklung eines Menschen ist wie ein Wald, der langsam und leise wächst. Und so ist auch sein Gebetsleben - auch das kann wachsen.