„Ich grolle nicht“, ganz entschieden singt die Mezzosospranistin Kim Seligsohn die letzten Zeilen aus dem gleichnamigen Lied von Robert Schumann. Sie singt aus einem weit offen stehenden Erdgeschossfenster für ein Publikum aus Passanten, mutmaßlich ein „Corona-Konzert“?
Ihr letzter Blick vor dem Abspann gilt weder dem Publikum noch der Kamera, sie wirkt ganz bei sich. Die Spannung, die das Lied selbst schon in sich trägt, zwischen einer behaupteten Versöhnung und einem gewissen Groll, der eben doch zu bestehen scheint, löst die Protagonistin und Co-Autorin des Films nicht auf. Denn zu diesem Zeitpunkt am Ende des Films weiß man, dass Kim Seligsohn Gründe zu Grollen genug hätte: der Film LIEBE ANGST ist eine Annäherung an die Liebe zu ihrer Familie und eine Auseinandersetzung mit ihren Ängsten, manchmal scheint die „liebe Angst“ auch wie ihre unvermeidliche aber letztlich akzeptierte Lebens-Begleiterin im Film auf.
Man erfährt viel über ihre Familie und ihre eigene Lebensgeschichte; über die Großeltern, die in Auschwitz ermordet wurden, die Mutter, die sechs Jahre alt war, als sie deportiert wurden, über ihren Bruder, der sich das Leben genommen hat, vor allem aber darüber, wie Kim Seligsohn versucht, ihr Leben, die Liebe ihrer Mutter und die Deutungshoheit über ihre Familiengeschichte zurückzuholen.
Sie hat am Drehbuch selbst mitgewirkt, die Musik im Film stammt zu großen Teilen von ihr oder wird von ihr interpretiert. Für Kim Seligsohn ist es eine Art Recherche-Reise. Sie spürt Belege für ihr lebenslanges Werben um die Liebe der Mutter auf: eine Kassettenaufnahme eines Lieds von Richard Strauß, die sie ihr geschickt hatte, oder die offenbar lustig gemeinte Postkarte „Blöde Kack-Arsch-Mama“, die die Mutter aus ihrem Durcheinander aus Zetteln, Zeitungsausschnitten, Post und anderen Versuchen, ihrem Leben eine Struktur zu geben, herausfischt und vorliest. Was ihre Tochter auf der Rückseite geschrieben hat, ist so ziemlich das Gegenteil zum Postkartenmotiv, eine Liebeserklärung an die Mutter.
Ein Blick in Lores Wohnung zeigt, dass sie sich trotz allem letztlich verzettelt, so scheint es dem Betrachter und mutmaßlich auch Tochter Kim. Und doch ist es ihre Art mit dem Trauma von Vernichtung, Tod und Konzentrationslager umzugehen, das sie zwar selbst nicht erlebt hat, das aber immer noch ihr Leben prägt.
Kim will aufräumen, reden, aufarbeiten, schafft es aber letztlich doch nicht. Gegen Ende des Films packt sie Lores Durcheinander in Müllsäcke, um sich selbst nicht zu verzetteln?
Kim lebt in Berlin, kurioserweise genau gegenüber der Wohnung, in der ihre Mutter gelebt hatte, sie arbeitet als Sängerin und auch als Komponistin, die „Hymne an die Namen“ von Opfern des Holocaust ist ihr persönlichstes Werk. Sie führt Hunde aus (sie werden allesamt im Abspann eigens erwähnt), was ihr erkennbar Freude macht, aber eben vermutlich auch um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Kim lässt die Kamera - und das Mikrofon – nah an sich ran, da ist keine künstlerische Eitelkeit, auch wenn sie sich beim Einsingen filmen lässt.
Noch im Bett liegend, betet sie auf ihrem Laptop die Laudes auf Radio Horeb mit: „Er hat uns errettet von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen“; der Vers stammt aus dem „Benedictus“. Der Lobgesang des Zacharias über die Geburt seines Sohnes Johannes ist nicht nur fester Bestandteil der Laudes, des Morgengebets der christlichen Kirche, es ist auch ein Gebet, das die Verbindung zwischen jüdischem und christlichem Bekenntnis zum Ausdruck bringt. Es ist auch der einzige Hinweis im Film auf die Katholikin Kim Seligsohn, die sich hat taufen lassen: „Ich hatte so ein bisschen die Befürchtung, dass ich mein Jüdischsein dadurch verraten würde, weil ich fühl mich auch als Jüdin“ und obwohl sie sich hat taufen lassen, bleibt sie ihrer Herkunft, ihren in Auschwitz ermordeten Großeltern, ihrer vor den Nazis versteckten Mutter, treu. Doch wenn sie betet, dann in der christlichen Tonart, sie sagt - an anderer Stelle, nicht im Film - hier habe sie eine Heimat gefunden. „Es heißt ja, Not lehrt beten. Also, diese Schneise in das Dickicht der Willkür oder der Abgründe habe ich mir in der Not geschlagen.“
LIEBE ANGST wirkt insgesamt wie ein weiterer Versuch Schneisen zu schlagen, Perspektiven zu entwickeln, einen Sinn zu finden, einen musikalischen und filmischen Ausdruck für Liebe und Angst zu finden. Dass es dabei nicht zu einer selbstbezogenen Nabelschau wird, ist das Verdienst von Kamera und Regie: immer nah dran, ohne entblößend zu sein, immer präzise, ohne zu verletzen. Vieles wirkt skizzenhaft, Geschichten werden erzählt, man wüsste es gern genauer. Dass sich der Film dem verweigert, macht ihn besser.
Zum Abspann singt Kim Seligsohn den Song „Motherless Child“. Grollt sie also doch? War das Ringen um die Mutter doch eine unnötige Kraftanstrengung? „Sometimes I feel like a motherless Child“, heißt es im Text, manchmal nur also fühle sie sich wie ein Kind ohne Mutter. Die LIEBE bleibt, aber eben auch die ANGST, sie doch zu verlieren. Die Stärke des Films liegt genau darin, diese Spannung zu ertragen und Sympathie für seine Protagonistin zu zeigen, Sympathie im ursprünglichen Sinn des Wortes und Anerkennung für eine starke und auch tapfere Frau.