Hier finden Ausgegrenzte, Verfolgte, Flüchtlinge und Menschen in Not einen Ort der Geborgenheit: Die Berliner Wohngemeinschaft Naunynstraße wurde vor 40 Jahren von drei Jesuiten gegründet.
Mitten im dicht bebauten, turbulenten und multikulturellen Stadtteil Berlin-Kreuzberg, unweit des U-Bahnhofs Kottbuser Tor, liegt die Naunynstraße. Die Wohnquartiere sind nicht nur optisch gemischt, es gibt sanierte, schicke Altbauwohnungen, Lückenbauten neueren Datums und einfache Wohnungen in jahrzehntelang kaum renovierten Häusern. Hier befindet sich hinter einer bunt bemalten Eingangstür, auf deren Klingelschild „WG Herwartz“ steht, eine besondere Wohngemeinschaft (WG). Die Wohnungstür ist bereits angelehnt, niemand steht dort, doch von innen dringen Gesprächsund Lachfetzen. Gleich links in der Küche kochen zwei fleißige Frauen Eier und füllen Kaffee um. „Hallo, wir duzen uns hier alle!“, stellt sich Iris*, die Leiterin der WG, vor. Sie wechselt mit Marga und Selda ein paar Worte, teilt mit, wie viele Gäste inzwischen im Wohnzimmer am Tisch sitzen, damit Kaffee- oder Teenachschub geplant werden können.
Seit 40 Jahren gibt es das Angebot „Offenes Samstagsfrühstück“ in der Naunynstraße 60. Nie wissen die Bewohner und Helfer der WG, wie viele Mitbewohner, Freunde, Leute aus der Nachbarschaft, Menschen von der Straße, Bekannte und Unbekannte, diesmal am langen Tisch im Wohnzimmer essen und trinken, reden, lachen, singen oder weinen werden. Rechnet man mit zirka 2000 Treffen in den letzten Jahrzehnten, haben die „Naunyns“ inzwischen eine Kleinstadt in ihren bescheidenen Wänden empfangen. „Das Samstagsfrühstück ist eine feste Einrichtung und uns ganz wichtig“, erklärt Iris, die seit 2015 in der WG lebt und 2016 deren Leitung übernahm.
„Gottesdienst am Küchentisch“
Die Gründungsväter der Wohngemeinschaft waren Christian Herwartz († 2022), Franz Keller († 2014) und Michael Walzer († 1986). Die drei Jesuiten nahmen 1978 im damals noch geteilten Berlin Arbeit als Lagerarbeiter, Dreher oder Küchenhilfe auf und gründeten etwas später die WG. „Mitten in dem vom Abriss bedrohten Kreuzberg, zwischen Menschen, die vor allem aus der Türkei, aber auch aus vielen andern Ländern kamen, gründeten wir eine Kommunität, die im Laufe ihrer Geschichte viele Menschen angezogen hat. Regelmäßig tauschten sie sich über ihren Alltag, die Arbeit und die Kontakte im Stadtteil aus und feierten anschließend miteinander ‚Gottesdienst am Küchentisch‘. Später kamen Menschen aus dem Gefängnis oder auf der Flucht aus dem Ausland in die Kommunität. Sie brachten ihre Verzweiflung, ihre Krankheiten und Süchte mit…“, beschrieb Christian Herwartz die Situation.
Aus der Arbeit der drei Ordensmänner, ihren täglichen Begegnungen auf der Straße, den Erfahrungen eines weiteren jungen Jesuiten, der mit in die WG zog, erwuchsen neue Aktivitäten, manche temporär, manche bis heute praktiziert: beispielsweise die bis zur Pandemie gehaltenen Mahnwachen vor der Abschiebehaft, die „Exerzitien auf der Straße“ oder das „Offene Samstagsfrühstück“.
Wie vor 40 Jahren stehen in den Zimmern der inzwischen drei Wohnungen mehrere Betten. Die Bewohner wechseln, zehn und oder mehr Menschen leben hier. Die WG versteht sich als Schutzraum, Zuflucht für Menschen, die unterschiedliche Sorgen und Nöte haben, Bedrohung, Abschiebung und Verfolgung befürchten oder aus anderen Gründen einen sicheren Ort brauchen: einen warmen Raum, ein Bett und etwas zu essen.
Kurzzeitig stand das Weiterbestehen der Wohngemeinschaft, die der Jesuitenorden in Berlin von Anfang an unterstützte und finanzierte, auf der Kippe. „Ein Glück, dass sie weiterhin für unsere Miete aufkommen“, sagt Iris erleichtert. Die laufenden Kosten tragen Freunde, Spender und die Bewohner aus unterschiedlichen Quellen selbst, jeder wie er kann.
Bunte Mischung am Frühstückstisch
Für das Frühstück lässt mancher Geld da, andere bringen Naturalien mit. Letzteres ist gewollt, schließlich wird das Essen geteilt. Aber nicht nur der Tisch ist heute, wie immer, bunt gedeckt – auch die Teilnehmer sind eine bunte Mischung: Iris entschuldigt Roy. Ihn lernten die WG-Bewohner durch das interreligiöse Friedensgebet, dessen Mitinitiator er ist, kennen. Seitdem ist er Freund und Begleiter, geht in der Naunynstraße ein und aus, doch heute ist das hinduistische Neujahrsfest. Das feiert der über 80-Jährige mit anderen Hindus. Jens aus Leipzig wird angekündigt. Er schaut vierteljährlich vorbei und will unbedingt noch den Osterbrunnen sehen, den die WG gestaltet hat. Sarah lebt seit 35 Jahren in der Nachbarschaft und gehört seit 2005 zu den Frühstücksbesuchern. Die meisten kennen sie, die aus ihrem Werdegang keinen Hehl macht: „Ich kenne die Uni und die Straße, ich habe ganz oben und ganz unten gelebt.“ Stephanus diskutiert mit seiner Nachbarin. Der Berliner hat eine Familie und eine Wohnung, doch nun lebt er für zwei Wochen mit den Menschen in der WG. „Weil ich das schon immer wollte!“, erklärt der Architekt. Diese Art des Zusammenlebens sei für ihn gelebte Utopie, die er von Christian Herwartz kennt und schätzt. Er hat auch Faten mitgebracht, die spontan beim Aufhängen der Ostereier geholfen hat und sich in diesem Kreis gut fühlt.
Marga und Selda leben zurzeit in den Zimmern der WG. Diese sind einfach eingerichtet. Mancher kommt nur mit dem, was er am Leib trägt. Zum Glück gebe es Kontakte zu einer Kleiderkammer, wo man für diese Mitbewohner auch „ohne Schein einer Behörde“ etwas zum Anziehen bekommen könne. Wer warum oder wie lange bleibt? „Wir fragen hier nicht viel, nur das Notwendigste“, erklärt Iris. So könnten die Neuen in Ruhe und Freiheit selbst entscheiden, was sie von sich preisgeben wollen. Gastfreundschaft, Geschwisterlichkeit, sich gegenseitig zu begleiten, sei das Wichtigste.
Im Lauf der Jahre sah sich die Leiterin häufig handfesten Problemen gegenüber. Egal, ob es Sorgen mit den Bewohnern gebe, die Polizei vor der Tür stehe, jemand dringend ärztliche Hilfe brauche und nicht versichert sei oder eine alte Sucht erneut aufbreche. Sie musste entscheiden, was zu tun ist und das manchmal sofort. Diese Aufgabe nimmt sie bis heute ernst und füllt sie aus.
Vielfalt der WG wird im Internet dokumentiert
Jedem WG-Bewohner steht es frei, seine religiöse Praxis einzubringen. Feiern des Schabbats gibt es hier genauso wie Gottesdienste oder das muslimische Fastenbrechen. Iris ist immer wieder aufs Neue begeistert vom unglaublichen Reichtum an Kulturen, Sprachen, Erfahrungen und Spiritualität in der WG. Ständig begleitet sie deren Alltag mit einen umfangreichen Blog (Internet- Tagebuch), damit aktuelle Aktionen bekannt gemacht und um Unterstützer und Unterstützung geworben werden könne.
Dass es Menschen in dieser Zelle der Gastfreundschaft und Mitmenschlichkeit gut gehabt haben, beweisen manchmal Geschenke, die sie, oft später, machen. Ein Beispiel dafür ist ein Kunstwerk im Flur, auf dem die Weltreligionen friedlich in einem großen Haus nebeneinander dargestellt sind – ganz so wie in der Wohngemeinschaft Naunynstraße.