MariensamstagSamstag, 25. Juni 2011

Eröffnung: GL 578 „Meerstern, sei gegrüßet“

Das Wesen wahrer Reform
Der Macher ist der Gegensatz des Staunenden. Er verengt die Vernunft und verliert damit das Mysterium aus den Augen. Je mehr Selbstbeschlossenes und Selbstgemachtes es in der Kirche gibt, desto enger wird sie für uns alle. Das Große, das Befreiende an ihr ist nicht das Selbstgemachte, sondern das, was uns allen geschenkt ist und was nicht aus unserem Wollen und Erdenken kommt, sondern Vorausgehen, Zukommen des Unausdenkbaren ist, das »größer ist als unser Herz« (vgl. 1 Joh 3,20). Die Reformatio, die allezeit nötige, besteht nicht darin, dass wir uns »unsere« Kirche immer neu zurechtmodellieren, sie selbst erfinden, sondern darin, dass wir immer wieder unsere eigenen Hilfskonstruktionen wegräumen zugunsten des reinen Lichts, das von oben kommt und das auch der Anbruch der reinsten Freiheit ist.

Ich will das, was ich meine, mit einem Bild sagen, das ich bei Michelangelo gefunden habe, der dabei seinerseits alte Erkenntnisse christlicher Mystik und Philosophie aufnimmt. Mit dem Blick des Künstlers sah Michelangelo im Stein, der vor ihm lag, bereits das reine Bild, das verborgen schon darauf wartete, freigelegt zu werden. Dem Künstler – so schien ihm – war nur aufgetragen, das wegzunehmen, was das Bild noch verdeckte. Michelangelo sah das eigentlich künstlerische Tun als ein Freilegen, ein Freigeben an – nicht als ein Machen.

Wenn wir es recht verstehen, ist in diesem Bild auch das Urmodell für kirchliche Reform zu finden. Immer wieder wird die Kirche menschlicher Hilfskonstruktionen bedürfen, um in ihrer jeweiligen Zeit reden und wirken zu können. Aber sie veralten, sie drohen, sich als das Wesentliche auszugeben, und sie verstellen so den Blick zum wirklich Wesentlichen. Darum müssen sie immer wieder, wie überflüssig gewordene Gerüste, abgetragen werden. Reform ist immer wieder ablatio – Wegnehmen, damit die nobilis forma, das Gesicht der Braut und mit ihm der Bräutigam selbst, der lebendige Herr, sichtbar werde.

Joseph Kard. Ratzinger 1990 in Rimini