Weißt du noch, wie’s damals war
Eine dunkelrote Flüssigkeit dampft auf dem Tisch. 7 ältere Herren sitzen drum herum. Der eine legt eine Metallschiene auf den Topf, der zweite legt einen weißen Klumpen drauf, der dritte gießt eine helle Flüssigkeit über den Klumpen, einer verteilt die Gläser, einer holt die Zigarren, und der jüngste darf ausschenken. Dann erheben alle das Glas und prosten sich zu. Rauchschwaden ziehen durch den Raum, alte Erinnerungen werden: „Weißt du noch, wie’s damals war …?
Wahrscheinlich haben Sie die Geschichte längst erkannt, den berühmten Roman „Die Feuerzangenbowle“ von Heinrich Spoerl, wo eine Handvoll alter Männer selig in Schulerinnerungen schwelgen und dabei sicher auch im Nachhinein manches verklärt haben, was in der Wirklichkeit bei weitem nicht so romantisch war. Es ist immer wieder schön, sich diesen Film einmal anzuschauen – und dabei auch eine Feuerzangenbowle zu trinken. Und so ein Tag wie heute, an dem wir an die Gründung der Pfarrei vor 100 Jahren denken, bietet sich förmlich an, in Erinnerungen zu schwelgen: Weißt du noch …?
Doch ich möchte mit Ihnen heute Abend nicht in alten Erinnerungen schwelgen. Ich möchte mit Ihnen in die Zukunft schauen, denn die liegt vor uns, und es liegt an uns, diese Zeit mit Leben und Glauben und mit Begeisterung zu erfüllen.
Unser Patronat (ich darf „unser“ sagen, denn ich gehöre ja auch zu dieser Pfarrei) scheint nach außen wenig attraktiv. Eine Schmerzensmutter wird auf den ersten Blick wenig Menschen begeistern, vor allem die jungen Menschen nicht. Mal abgesehen davon, ob später einmal die Pfarrei ein anderes Patronat erhalten wird – ich möchte dennoch gern bei der mater dolorosa verweilen und schauen, ob Sie nicht doch etwas anzubieten hat, was andere begeistern könnte.
Freude und Hoffnung, Trauer und Angst …
Wie könnte so eine Erneuerung, ein Aufbruch aussehen? Da kommt mir eine berühmte Person in Erinnerung, die die älteren von Ihnen noch erlebt haben: Papst Johannes XXIII.. Er hat gespürt, dass die Kirche sich verändern muss, wenn sie auf die Fragen der Menschen eine Antwort geben und Menschen mit dem Evangelium in Berührung bringen will. Und so hat er den Mut gehabt, ein Konzil einzuberufen, das II. Vatikanische Konzil.
Auf diesem Konzil hat sich viel verändert, was die Menschen damals als Aufbruch erlebt haben. Ich erinnere mich noch gut, wie begeistert meine Eltern waren, als die Hl. Messe auf einmal in der Muttersprache gefeiert wurde. „Ich wusste nie, welche schönen Texte der Priester bei der Hl. Messe spricht“, sagte damals mein Vater, der kein Latein konnte.
Auf diesem Konzil ist auch die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute GAUDIUM ET SPES verfasst worden. Der Anfang dieser Konstitution ist so markant, dass er immer wieder (auch in einem Hochgebet) zitiert wird: Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Notleidenden aller Art, sind zugleich auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.
Maria – ein buntes Leben
Wenn ich so überlege, wer und wo diese Sätze gelebt wurden, fällt mir als erstes Maria, die Gottesmutter ein.
Ich erinnere mich an eine Maiandacht im Paderborner Priesterseminar. Jeder brachte eine Blume mit, es entstand ein bunter Strauß. Anhand der Farben wurde das Leben der Gottesmutter nach den Texten der Bibel nachgezeichnet. Alle Farben kamen darin vor; Freude und Hoffnung, Trauer und Angst. Maria hat all diese Dinge miterlebt, ist somit berührbar gewesen für alles Menschliche. Eine Kirche, die berührbar ist für die Freuden und Enttäuschungen der Menschen - ich bin überzeugt, dass dies auch heute Menschen ansprechen würde.
Die Pietà
Manche werden sagen: na ja, zu bestimmten Anlässen kommen die Leute ja zur Kirche: Taufen, Erstkommunion, Trauungen, Weihnachten … In der Regel sind das festliche Anlässe. Doch die Tragfähigkeit einer Beziehung zeigt sich nicht in den festlichen Stunden, sondern im Aushalten und Mittragen schwerer Stunden. Das zeigt sich bei familiären Beziehungen und Freundschaften ebenso wie in der Beziehung zwischen Mensch und Gott.
Auch hier können wir wieder auf das Leben der Gottesmutter schauen. Sie hat den Herrn nicht nur in frohen Stunden begleitet. Sie hat ihn auch in den Stunden nicht verlassen, wo alle anderen fortgelaufen sind, und ist ihm gefolgt auf der via dolorosa, auf dem Leidensweg bis unter das Kreuz.
Es ist interessant, dass gerade unter diesem Bild der Pietà viele Menschen gut beten können. Bei einer Frau, die nicht nur Freude und Hoffnung, sondern auch Angst und Trauer erlebt und mitgetragen hat, fühlen sich viele verstanden und gut aufgehoben. Da zeigt sich die Bedeutung des Konzilstextes in seiner ganzen Tiefe. Und ich bin sicher, dass diese Botschaft dann auch die Menschen erreicht.
Unser Bruder geworden
Warum ist Gott Mensch geworden? Mit dieser Frage haben wir uns im Studium beschäftigt. Der Grund: um uns zu erlösen. Doch ebenso interessant ist die Frage, wie Gott uns erlösen wollte.
Es begann im Paradies. Der Mensch hat sich nicht an die Weisung Gottes gehalten und von der Frucht des Baumes gegessen. Was hätten Sie getan, wenn Sie Gott wären? Mit der Faust auf den Tisch gehauen. Das hätte Gott leicht tun können, aber damit hätte er den Menschen klein gemacht. Die Liebe aber kennt eine andere Sprache. Der Geliebte (und das ist in diesem Fall der Mensch) soll nicht klein gemacht, sondern groß werden. Und so hat sich Gott klein gemacht, ist ein Kind geworden.
Dazu eine kleine Geschichte: Das beste Geschenk
Mein Freund Paul bekam von seinem Bruder zu Weihnachten ein Auto geschenkt. Als Paul am Nachmittag des Heiligen Abends sein Büro verließ, sah er, wie ein ärmlich gekleideter 16-jähriger Junge um sein nagelneues blitzendes Auto herumschlich. Er schien echt begeistert davon zu sein. „Ist das ihr Auto, Mister?“, fragte er. Paul nickte. „Ja, mein Bruder hat es mir zu Weihnachten geschenkt.“ Der Junge blieb wie angewurzelt stehen. „Wollen Sie damit sagen, Ihr Bruder hat es ihnen einfach so geschenkt und sie haben nichts dafür bezahlt? Mensch, ich wünschte…“ Er zögerte.
Natürlich wusste Paul, was der Junge sich wünschen würde. Er würde sich wünschen, auch so einen Bruder zu haben. Aber was er dann sagte, kam für Paul so überraschend, dass er seinen Ohren nicht traute.
„Ich wünschte mir,“ fuhr der Junge fort, „ich könnte auch so ein Bruder sein.“ Paul sah den Jungen an und fragt ihn spontan: „Hast du Lust auf eine kleine Spritztour mit meinem neuen Auto?“ – „Das wäre echt toll, Mensch!“
Nachdem sie eine kurze Strecke gefahren waren, fragte der Junge mit glühendem Augenaufschlag: „Mister, würde es Ihnen etwas ausmachen, bis zu unserer Haustür zu fahren?“ Paul schmunzelte. Er glaubte zu wissen, was der Junge wollte. Er wollte sicher seinen Nachbarn zeigen, dass er in einem großen, neuen Auto nach Hause gefahren wurde.
Aber Paul irrte sich ein zweites Mal gewaltig. „Können Sie da kurz halten, wo die beiden Stufen enden?“, fragte der Junge. Er lief die Stufen hinauf. Nach kurzer Zeit hörte Paul ihn zurückkommen. Aber er kam nicht schnell gerannt. Der Junge trug seinen verkrüppelten kleinen Bruder. Er setzte ihn auf der untersten Stufe ab, und dann beugte er sich zu ihm hinunter: „Da ist es, Bruderherz, genauso wie ich es dir oben gesagt habe. Sein Bruder hat es ihm zu Weihnachten geschenkt, einfach so. Und eines Tages werde ich dir auch eins schenken, genau so eins wie das hier. Und dann kannst du dir all die schönen Sachen in den Weihnachtsschaufenstern selbst ansehen, die ich dir versucht habe zu beschreiben.
Paul stieg aus und hob den kleinen Burschen auf dem Beifahrersitz. Mit glänzenden Augen setzte sich sein großer Bruder hinter ihn, und die drei machten sich auf zu einem Weihnachtsausflug, den keiner von Ihnen jemals vergessen würde.
Als ich diese Geschichte zum ersten Mal gelesen haben, war ich ganz gerührt. Ich muss gestehen, dass ich auch glaubte, die Gedanken und Wünsche des Jugendlichen zu kennen. Ich wünschte, ich hätte auch so einen Bruder, der mir ein tolles Auto schenkt. Doch Paul irrte sich. Der Jugendliche wollte nicht so einen Bruder haben, er wollte so ein Bruder werden und sein – für seinen kleinen, behinderten Bruder.
Ich habe viel darüber nachgedacht: Ist dies nicht die Sprache Gottes? Er will uns nicht in die Pflicht nehmen: du kannst mein Bruder sein, wenn du meine Gebote hältst. Er nimmt sich selbst in die Pflicht, ist selbst unser Bruder geworden. Ein Auto hatte er nicht zu verschenken, aber etwas viel wertvolleres: sich selbst.
Und dann kannst du dir all die herrlichen Sachen selbst anschauen
Ja, so endet die Geschichte. Der Jugendliche möchte seinem Bruder die herrlichen Sachen zeigen, die er jetzt nicht sehen kann. So endet auch der Prolog im Johannesevangelium: Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater.
Gott ist unser Bruder geworden, um uns seine Herrlichkeit zu zeigen. Von diesem Gott möchte ich lernen und erzählen. Und ich glaube, dass wir mit dieser Sprache auch in Zukunft Menschen erreichen und mit dem Evangelium in Berührung bringen und für Gott begeistern können.