Hirtenbrief zum Jahresbeginn 2006
Liebe Schwestern und Brüder!
Zu Beginn des neuen Jahres ist es mir ein Anliegen, gemeinsam mit Ihnen auf die vor uns liegenden Aufgaben zu blicken und zugleich aus der Rückschau Kraft und Zuversicht zu schöpfen, die der Herr uns schenkt.
Besonders liegt mir am Herzen,
- daß wir uns über Pfarrgrenzen hinaus als eine große Bistumsfamilie verstehen;
- daß wir den Herrn der Kirche um Priester und Ordensberufe bitten;
- und daß wir nicht nachlassen in der Anbetung Jesu Christi.
1. Ja zu unserer Ortskirche in schwieriger Zeit
Im vergangenen Jahr haben wir dankbar zurückgeschaut auf 75 Jahre Bistum Berlin, auf
Jahrzehnte mit Höhen und Tiefen, in denen sich der Glaube unserer Vorfahren und unser
eigener Glaube zu bewähren hatte. Wenn auch die politischen und gesellschaftlichen
Verhältnisse zu unterschiedlich verlaufenden Entwicklungen in unserer Diözese beitrugen, so hat sich doch der innere Zusammenhalt in e i n e m Bistum – über Mauer und Grenze hinweg – bewährt. Wir haben erlebt, daß der äußere Druck auf die Kirche einerseits zu großen Verlusten führte; dabei denke ich weniger an Statistiken über Kirchengliedschaft, sondern daran, was es für einen Menschen bedeutet, den Weg zu Gott zu verlieren.
Andererseits bewirkte die politische und gesellschaftliche Geringschätzung von Christen
und Kirche, daß der innere Zusammenhalt wuchs und Christen sich gegenseitig zu stärken suchten. Unser Dank gilt den Bischöfen und allen Katholiken in Ost und West, denen die Bewahrung der Einheit in schwerer Zeit ein Herzensanliegen war. Ihnen verdanken wir es, daß wir heute sagen dürfen: Wir sind das eine Bistum Berlin geblieben. Für unsere Gemeinden zwischen der Insel Rügen und dem Fläming, zwischen Oder und Prignitz bleibt die St. Hedwigs-Kathedrale mit dem Grab des seligen Dompropstes Bernhard Lichtenberg Zentrum des Bistums.
Der äußere Druck ist mit der politischen Wende gewichen. Doch wir stehen vor neuen
Herausforderungen. Unsere Gemeinden sind zahlenmäßig kleiner geworden. Wir mußten
Zusammenlegungen vornehmen, Planstellen reduzieren und neu ordnen. Die weiterhin
angespannte finanzielle Lage zwingt zu weiteren Einschränkungen, vor allem im
Personalbereich. Das ging und geht nicht ohne Schwierigkeiten, nicht ohne
Enttäuschungen und Verletzungen ab. Und manchmal gerät – bei Verantwortlichen wie
Betroffenen, in Gemeinden und in der Diözese – aus dem Blick, was jenseits der
finanziellen Probleme möglich und notwendig bleibt: daß wir uns einander zuwenden mit
dem Blick der Liebe, dem rechten Wort, der helfenden Tat.
Gemeinsam muß uns die Sorge um die Weitergabe des Glaubens im schulischen
Religionsunterricht bewegen, die durch die Einführung eines gesetzlich verordneten
staatlichen Werteunterrichts vor neuen Hindernissen steht.
Ich weiß mich mit Ihnen, Schwestern und Brüder, einig, daß unsere Antwort auf diese und andere Herausforderungen weder Resignation noch naiver Optimismus sein kann.
Erinnern wir uns an den Text eines unserer gern gesungenen Lieder, den der Verfasser in wahrhaft schwieriger Zeit, im Kriegsjahr 1941, in ungebrochenem Gottvertrauen verfaßt hat:
Hat er nicht zu aller Zeit uns bisher getragen und geführt durch allen Streit? Sollten wir verzagen? Seine Schar verläßt er nicht, und in dieser Zuversicht darf sie’s fröhlich wagen.“ (GL 268,3)
Und es gibt auch hoffnungsvolle Zeichen! Trotz der Schwierigkeiten erfahren wir die Freude am Glauben und an der Kirche. Der Dienst am Nächsten wird von vielen engagiert geleistet, sei es im Ehrenamt, sei es in der stillen Weise, die wohl nur Gott selber wahrnimmt, sei es in der verbandlichen Caritas. Bei Besuchen in Gemeinden und in Gesprächen mit Priestern und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern höre ich mit Freude, daß die Kirche zur Zeit mehr gefragt ist als in vergangenen Jahren, und zwar nach ihrem Glauben. Die Erwartungen an die Kirche sind groß.
2. Arbeiter für die Ernte des Herrn
Unserem Bistum – wie allen Bistümern in Deutschland – fehlt es an jungen Menschen, die
bereit und geeignet sind, Priester zu werden. So ist es nicht allein und nicht zuerst die
finanzielle Lage, die uns Bischöfen Sorge bereitet, sondern die Frage: Werden wir auch in
Zukunft genügend und gute Priester haben, die dem Bischof in seiner Verantwortung für
den priesterlichen Dienst in der Diözese zur Seite stehen?
Schon bevor die extreme Finanznot unseres Erzbistums offenkundig wurde, waren
Bemühungen in Gang gekommen, den sich abzeichnenden Problemen in sinnvoller Weise
zu begegnen. In den Dekanaten und Pfarrgemeinden wurden Vorschläge aus der
bischöflichen Verwaltung erörtert, kritische Hinweise gegeben und Verbesserungen
vorgeschlagen. All das diente dem Ziel, die Seelsorge auch unter sich wandelnden
Bedingungen zu gewährleisten.
Manch einer meinte, den erkennbaren Mangel an Priestern durch den Einsatz von Laien im pastoralen Dienst ausgleichen zu können. Und zweifellos sind die pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf wichtigen Feldern der Seelsorge unverzichtbar. Wo jedoch der Dienst des geweihten Priesters unabdingbar ist – insbesondere in der Spendung der Sakramente, aber auch in der Verkündigung und im Dienst an der Einheit – ist ein „Ersatz“ für den Priester nicht möglich.
Ich will nicht verhehlen, daß als Priester niemand „Karriere“ machen wird. Im Gegenteil,
die Anforderungen werden größer, und die Belastungen nehmen zu. Die Verantwortlichen
in der Priesterausbildung werden darauf zu achten haben, daß sie dem
Organisationstalent und der Befähigung zur Leitung größer werdender Gemeinden nicht
größere Bedeutung beimessen als der theologischen Bildung und der priesterlichen
Frömmigkeit in der Nachfolge Christi.
Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge und den
anderen Diensten in der Gemeinde wird weiter abnehmen. Damit wir dennoch unsere
Aufgabe als Kirche hier und heute erfüllen, kommt es ganz wesentlich darauf an, daß
möglichst viele mitwirken. „Einer trage des anderen Last“, fordert der Apostel Paulus. Im
Sinne dieses Wortes bitte ich Sie alle: Helfen Sie den Priestern! Entlasten Sie sie durch
die Übernahme von Aufgaben, soweit es Laien möglich ist.
Vor allem vergessen Sie nicht, immer und immer wieder den Herrn zu bitten: ER, der
ewige Hohepriester, möge Menschen in seinen Dienst zur Ehre Gottes und zum Heil der
Menschen rufen. Gebe Gott, daß sich in unseren Gemeinden junge Männer rufen lassen!
Daß ihnen die Erfahrung einer mitsorgenden und den Priester mittragenden Gemeinde
Mut macht, sich auf den Ruf des Herrn einzulassen; Mut macht zum priesterlichen Dienst,
auch wenn ein Teil des Weges Anteil am Kreuzweg des Herrn ist; Mut macht zur Hingabe
und zur Verfügbarkeit für die Diözese in der Gemeinschaft mit dem Bischof.
Deshalb bitte ich Sie: Bedenken Sie, wie Sie dieses Anliegen in der Fürbitte vor den Herrn bringen können. Es war der selige Bernhard Lichtenberg, der im September 1934 erstmals in unserer Kathedrale den Priestersamstag als Gebets- und Opfertag für Priester und Priesterkandidaten gefeiert hat, mit einem weltweiten Echo. Sollten wir nicht wie er den Herrn im Gebet bestürmen, daß die Berufenen seinen Ruf hören und ihm folgen? Daß sie Ja sagen zur priesterlichen Berufung, verständliche Bedenken zurückstellen können, weil sie die Gnade des berufenden Gottes auch erfahren in den mittragenden Kräften des Volkes Gottes, erfahren in der eigenen Heimatgemeinde. Ich bitte Sie, überlegen Sie im Pfarrgemeinderat, in den Gruppen der Gemeinde, ob Sie nicht vielleicht regelmäßig eine gemeinsame Werktagsmesse mit der Bitte um gute Priester feiern und für dieses Anliegen aufopfern können. Vergessen Sie nicht: jede Gemeinde trägt mit Verantwortung dafür, daß auch morgen noch die Eucharistie in unseren Kirchen gefeiert werden kann, die Sakramente gespendet werden können, das Wort Gottes verkündet und der Dienst an der Einheit fruchtbar wird!
3. Anbetung
Die Kirche hat im vergangenen Jahr dem Geheimnis der Eucharistie besondere
Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem Papst Johannes Paul ein „Eucharistisches Jahr“
ausgerufen hatte. Vielleicht ist das Anliegen bei uns in den Hintergrund geraten. Das
Sterben des Heiligen Vaters, Papst Johannes Paul II., die Wahl des deutschen Kardinals
Ratzinger zum Papst, das Weltjugendtreffen in Köln und unser eigenes Bistumsjubiläum
haben uns mehr beschäftigt. Aber alles kirchliche Tun ist auf Sand gebaut, wenn nicht
Christus das Fundament ist:
Er, dessen Tod und Auferstehung wir in jeder Heiligen Messe feiern, bis er wiederkommt;
Er, der in den eucharistischen Gestalten bleibend gegenwärtig ist;
Er, der für uns und zu unserem Heil seinen Weg ging aus Liebe zu dir und zu mir;
Er, dessen Wort durch die Kirche unaufhörlich hörbar gemacht wird.
Das alles wird jedoch erst fruchtbar, wenn wir ihm glaubend ergeben sind.
Wir können uns nicht damit begnügen, am Fest der Erscheinung des Herrn die Anbetung
der heiligen drei Könige zu betrachten. Ist es nicht immer neu nötig, daß wir selbst dem
Herrn in einer ganz persönlichen Weise anbetend begegnen?
Tiefenwirkung werden wir erst dann erfahren, wenn wir uns nach dem Empfang der
heiligen Kommunion dankbar anbetend in das Geheimnis seiner – immer auch mir
geltenden – Liebe versenken.
Frühere Generationen pflegten das „Ewige Gebet“, die ununterbrochene Anbetung des
Herrn in der sakramentalen Brotsgestalt. Reihum, von Pfarrgemeinde zu Pfarrgemeinde,
und besonders in den klösterlichen Gemeinschaften wurde dafür gesorgt, daß die
Anbetung nicht unterbrochen wurde. Mit dankbarer Anerkennung kann ich feststellen, daß auch heute noch in manchen Pfarrgemeinden weiterhin „Ewiges Gebet“ gehalten wird und daß die Anbetung in den Ordensgemeinschaften nach wie vor zur Mitte ihres geistlichen Lebens gehört. Wenn es heute schwieriger ist, dieses Gebet in seiner früheren Form weiterzuführen – sollten wir nicht nach neuen Formen der Anbetung suchen und gerade im Blick auf die Neuordnung der Gemeinden und Dekanate erfinderisch sein?
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn wir miteinander den Weg in das neue Jahr 2006 gehen, wenn wir uns als
Bistumsfamilie begreifen wollen, wenn uns die Berufung zum Priestertum ein
Herzensanliegen ist, dann werden wir zuerst zu IHM, unserem Herrn, kommen müssen
und von IHM in christlicher Hoffnung alles erwarten – vorausgesetzt, wir machen ernst mit dem, was uns selbst möglich ist.
Daß uns dies mit dem Beistand des Heiligen Geistes gelingen möge, dazu segne Sie der allmächtige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Ihr Erzbischof
+ Georg Cardinal Sterzinsky
Berlin, am Neujahrstag 2006