Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2005
Im Kreuz ist Hoffnung
Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Berlin,
diesen Hirtenbrief zur Fastenzeit schreibe ich Ihnen im 75. Jahr nach der Gründung unseres Bistums am 13. August 1930. Für viele von uns, insbesondere für die Älteren, ist das Datum „13. August“ vor allem mit der Erinnerung an die Errichtung der Berliner Mauer im Jahr 1961 und ihre schrecklichen Folgen für so viele Menschen verbunden. Zu Recht hat Kardinal Döpfner für unser Bistum das Wort von der Kirche unter dem Kreuz geprägt, als er in jenen Augusttagen Berlin verlassen mußte. Kirche unter dem Kreuz war unser Bistum nicht nur in der Zeit der Teilung und des Kalten Krieges, sondern bereits in den Jahren der Naziherrschaft. Viele katholische Christen auch unseres Bistums - Priester und Laien - litten und starben in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Der Zweite Weltkrieg machte zahllose Menschen zu Opfern. Wir danken Gott, daß diese Zeiten vorüber sind.
Voller Freude haben wir vor 15 Jahren das Ende der SED-Diktatur und die Wiedervereinigung gefeiert. Doch hat die Zeit nach der politischen Wende die Gesellschaft und unsere Kirche vor Aufgaben gestellt, die zu tiefgreifenden und manchmal auch schmerzlichen Einschnitten im Leben vieler einzelner Menschen wie auch unserer Pfarrgemeinden führen. Wir müssen erkennen, daß die Hoffnung auf eine unbeschwerte Zeit - eine Zeit ohne Kreuz - sich trotz vieler guter Entwicklungen letztlich nicht erfüllt hat und daß das Wort von der Kirche unter dem Kreuz seine Aktualität behält. Doch nimmt uns diese Erfahrung nicht den Mut. Deshalb haben wir für das 75jährige Jubiläum unseres Bistums das Leitwort gewählt: Im Kreuz ist Hoffnung. Als Zeichen unserer christlichen Hoffnung zieht ein Bild des Gekreuzigten, das „Spandauer Kreuz“, das älteste Zeugnis christlichen Glaubens in unserer Region, in diesem Jahr von Gemeinde zu Gemeinde.
1. Die Last des Kreuzes
Liebe Schwestern und Brüder! Bei der Rede vom Kreuz überkommt uns Menschen leicht ein Unbehagen. Denn wir verbinden damit die Vorstellung von Verzicht, Leid und Tod. Wir haben Jesu schreckliches Schicksal vor Augen, seinen Tod am Kreuz. Oder wir denken an all die Lasten und bitteren Erfahrungen, unter denen viele Menschen - auch heute - zu leiden haben: die Folgen von Naturkatastrophen und die Nöte der unverschuldeten Armut, die Schmerzen tödlicher Krankheiten und Ängste der Langzeitarbeitslosigkeit, Verwundungen der verlassenen Ehepartner und die - mitunter folgenschweren - Entbehrungen der Kinder ohne Eltern.
Wir denken an die Kreuze der Kirche: an unsere kleinen Zahlen, die wir nicht ohne weiteres als „Chance der kleinen Herde“ sehen können; an unser oftmals so schwaches oder nicht mehr gefragtes christliches Zeugnis; an Untreue in der Nachfolge Christi und Skandale; an krisenhafte Erscheinungen, die Engagement und Mittun lähmen; an motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Erzbistum und Gemeinden, deren Dienst nicht mehr finanziert werden kann; an Kirchen und Kapellen, die unter großen Opfern erbaut und nun aufgegeben werden müssen.
Jeder kann die Reihe der Kreuze aus der eigenen Erfahrung ergänzen. Stellt sich angesichts all dessen nicht die Frage ganz von selbst: Im Kreuz soll Hoffnung sein?
2. Die Bereitschaft zur Hingabe
Die Antwort auf die gestellte Frage rührt an ein tiefes Geheimnis unseres Glaubens: die Botschaft vom Kreuz Christi.
Nach allem, was das Evangelium sagt, ist das Kreuz Jesu nicht eine Panne bei der Erfüllung des Auftrags, mit dem Jesus gesandt war; nicht blindwütiges Schicksal, sondern bewußte und gewollte Hingabe des Lebens aus Liebe. So hat er selbst es gesagt: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ (Joh 15,13). Indem Jesus das Kreuz annimmt und es bis zum bitteren Ende trägt, wird aus dem so unmenschlichen und widergöttlichen Kreuz sein Kreuzesopfer.
Um dieser Hingabe willen hat der Mensch gewordene Gottessohn in seiner Liebe zu seinem Vater und zu uns alles angenommen, was Gott heimholen will: das ganze Menschsein - auch die Angst und den Schmerz, auch die Verlassenheit und sogar den Verrat des Apostels Judas und die Verleugnung des Apostels Petrus, selbst den Tod, auch den Tod am Kreuz. Diese Annahme wird als Hingabe des Lebens zur Tat der erlösenden Liebe. Christus „hat Frieden gestiftet am Kreuz durch sein Blut“, schreibt der Apostel an die Kolosser (1,20). „Im Kreuze Christi finden wir Heil“, singen wir in Dankbarkeit. Allerdings dürfen wir nicht überhören: Weil die Bereitschaft zur Hingabe des Lebens der Weg zur Erlösung ist, ergeht der Ruf Jesu „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,24).
So wird das Kreuz zum Zeichen der Hoffnung, das Kreuz Jesu, aber auch das Kreuz derer, die ihm nachfolgen.
3. Die verwandelnde Kraft
Schwestern und Brüder, nun kommt alles darauf an, daß die erlösende Kraft des Kreuzes Christi an uns und in uns wirksam wird.
Darum sind wir getauft worden. In der Taufe ist uns der Geist Gottes verliehen worden, der uns zur Ähnlichkeit mit Christus umgestalten will. Diese Umgestaltung ist allerdings ein lebenslanger Prozeß. Die wichtigste Hilfe dabei ist die Eucharistie. Wenn wir sie recht feiern, geschieht mehrfach eine Wandlung: die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi und die Wandlung der Feiernden „zu einer Gabe, die Gott wohlgefällt“, wie wir im Hochgebet bitten.
Menschliches Leben ist immer in Wandlungen begriffen.
Es gibt die Gefahr böser Wandlungen. Manche Wandlungen machen aus dem Leben ein „Sein zum Tode“: wenn beispielsweise aus einem Menschen mit jugendlichem Glauben und hochherziger Bereitschaft zur Christusnachfolge ein ehrgeiziger Karrierist wird; wenn Ehepartner mit der Hingabekraft ihrer Liebe zu Jüngern der Spaßgesellschaft werden, bis aus dem „Ja“ der ehelichen Liebe bitterböse Entfremdung und Scheidung geworden ist; wenn aus Freunden Feinde werden, weil statt Vertrauen nur noch Mißtrauen und zersetzende Kritik herrschen.
Aber es gibt gottlob auch das andere: daß das Leben eines Menschen gewandelt wird in die Ähnlichkeit mit dem geopferten oder verherrlichten Christus, in die Reife der Liebe. Das kann geschehen auf einem Krankenlager und im nahezu lautlosen Dahinsterben; es kann geschehen in der unbeirrbaren Liebe und Treue von Eheleuten; es kann geschehen in einer Nachfolge Christi, die von außen niemand erkennt und die doch Hingabe des Lebens ist nach dem Wort des Herrn von der größeren Liebe...
Solch ein Wandel wird genährt durch die eucharistische Speise, wenn denn die Eucharistie in der rechten Gesinnung und in großer Treue gefeiert wird.
Unser Heiliger Vater, Papst Johannes Paul II., hat aufgerufen, das „Jahr der Eucharistie“ zu begehen. Ich rufe Sie alle, Schwestern und Brüder, auf, dem Geheimnis des Glaubens, das uns in der Eucharistie anvertraut ist, nachzuspüren. Ich bitte Sie inständig, jeden Sonntag durch die Feier der Eucharistie zu heiligen, und - wenn möglich -, auch andere Tage.
Immer wieder dürfen wir die Kreuze unseres Lebens zu Gott dem Vater tragen, aber auch die Kreuze der Welt: die Nöte derer, die unter ungerechtem Richterspruch leiden, wie auch die Gewissenslast derer, die über andere ungerecht urteilen; die Trauer aller voneinander Getrennten und Geschiedenen, aber auch die Hartherzigkeit der Egoisten und Gleichgültigen; die Leiden der Verratenen und Denunzierten, aber auch die Sündennot der Verräter und Denunzianten; die Mühe derer, die unter schweren Belastungen zu leiden haben, aber auch die Feigheit derer, die der Entscheidung und dem Opfer aus dem Wege gehen.
Christus hat in seinem Kreuz die Last der Welt getragen. So hat er das Kreuz gewandelt zum Zeichen des Heils für die Welt. Darum ist im Kreuz Hoffnung.
Liebe Schwestern und Brüder,
in den Tagen unseres Bistumsjubiläums versammeln sich junge Christen aus der ganzen Welt in Deutschland. Auf dem Weg nach Köln werden ansehnliche Gruppen von ihnen Halt machen in unserem Erzbistum. Sie alle kommen zusammen im Zeichen des Kreuzes, in dem Hoffnung ist: im Zeichen desselben Kreuzes, das durch die Jahrhunderte zum Kennzeichen der Christen wurde und zu dem wir uns bekennen, wenn wir eine Kreuzesdarstellung durch unsere Gemeinden ziehen lassen.
Wie sehr wünsche ich, daß jeder von uns und wir alle als Gemeinschaft der Kirche erkennen, daß im Kreuz Christi wahrhaft Hoffnung ist: nicht einfach eine Hoffnung auf bessere Zeiten, sondern Hoffnung auf die verwandelnde und lebensspendende Kraft der Liebe Christi!
So segne Sie der barmherzige Gott: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.
Ihr Erzbischof
Georg Kardinal Sterzinsky
Berlin, am 25. Januar 2005