Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2007

Ehe und Familie in gewandelter Lebenswirklichkeit

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Zu Beginn der österlichen Bußzeit grüße ich Sie alle mit dem Wunsch: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch.

In meinem Hirtenbrief möchte ich zu Ihnen über ein Thema sprechen, das uns alle bewegt: Ehe und Familie in gewandelter Lebenswirklichkeit.

1. Im Blick: die heutige Lebenswirklichkeit

Am Fest der Heiligen Familie lässt uns die Kirche beten: „Herr, unser Gott, in der Heiligen Familie hast du uns ein leuchtendes Vorbild geschenkt. Gib unseren Familien die Gnade, dass auch sie in Frömmigkeit und Eintracht leben und untereinander in der Liebe verbunden bleiben.“

Wenn wir diesen Gebetstext hören, haben wir vermutlich ein Bild der Heiligen Familie vor Augen, das mit der heutigen Lebenswirklichkeit wenig gemein hat: der heilige Josef, mild und abgeklärt, nicht mehr ganz jung und bereit zur Arbeit; immer im Hintergrund Maria, ganz in der Häuslichkeit aufgehend; das Kind Jesus, bereit zu gehorchen und wohlbehütet: eine Momentaufnahme von einem unwirklich scheinenden idyllischen Leben in Nazareth.

Kann solche Idylle ein nachahmenswertes Vorbild für Familie in heutiger Zeit sein? Ob sie einmal normativ war oder nicht, heute wirkt sie lebensfern. Denken wir nur an die Umwälzungen, die allein in den letzten Jahrzehnten geschehen sind: Veränderungen im Zusammenleben der Menschen und im familiären Umfeld; in der Arbeitswelt, die Arbeitslosigkeit eingeschlossen; im Bildungswesen – von der Kita bis zur Forderung nach lebenslangem Lernen; in den Formen der Kommunikation bis hin zum Gebrauch des Internet.

Doch ist in der modernen Welt das Thema „Familie“ in jüngster Zeit wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: im privaten Raum wie im gesellschaftlichen Diskurs, sogar in der Politik, demzufolge auch in den Medien. Es ist aber keine Rückkehr zu dem, was einmal galt. Zwar spricht man von der „traditionellen Familie“, doch wird sie weniger bewundert als belächelt; sie ist nicht mehr maßgeblich. Zu mannigfach sind die Formen der individuellen Lebensgestaltung; zu tief verändert das Verständnis vom Verhältnis der Geschlechter zueinander, zu sehr gewandelt die Beziehungen der Generationen untereinander. Zu vielfältig sind die Erfahrungen des Scheiterns. Ich erinnere an die große Zahl zerbrechender Ehen, an die nicht selten traurigen Schicksale der „Scheidungskinder“.

Viele leben heute in Beziehungen, die dem traditionellen Familienverständnis nicht mehr entsprechen: wir reden von Patchworkfamilien, Stief- oder Einelternfamilien, von nichtehelichen Lebensgemeinschaften oder Lebensabschnittspartnerschaften. Hinzu kommen die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. So spricht mancher von Familie als einer „auf Dauer ausgerichteten Verbindlichkeit; egal, welche Personen dazu gehören“; andere simplifizieren mit der Erklärung: „Familie ist da, wo Kinder sind.“
Wen wundert es, wenn auch katholische Christen angesichts solcher Entwicklungen in der Frage nach Ehe und Familie unsicher werden?

Natürlich kann ich in diesem Schreiben nicht – nicht einmal annähernd – auf alle Fragen eingehen, die sich aus dem Wandel der Lebenswirklichkeit ergeben. Darum bitte ich Sie, liebe Schwestern und Brüder, suchen Sie in Ihren Gemeinden, vor allem im Kreis der Jungen Erwachsenen und in den Eltern- und Familienkreisen nach Antworten aus dem Glauben der Kirche und aus Ihrer eigenen Lebenserfahrung! Tun Sie dies gemeinsam mit den für die Seelsorge Verantwortlichen in Gemeinde und Dekanat! Und ermutigen Sie sich gegenseitig: die jungen Christen, dass sie Ja sagen können zur ehelichen Bindung, und die Eheleute, dass sie auch in schwierigen Lebenslagen und in Krisen die Kraft finden, einander die Treue zu halten. Ziel ist nicht ein Familienleben nach einer Idylle – auch nicht dem Bild, das wir uns von Nazareth machen –, aber ein Leben aus der Gnade, die die Kirche erbittet: „dass sie in Frömmigkeit und Eintracht leben und in der Liebe verbunden bleiben.“ Für den Weg dahin gibt es von Gott gesetzte Ordnungen, die nicht folgenlos verletzt werden.

Ich will mich auf zwei Anliegen beschränken: ich möchte von der Würde und Bedeutung der Elternschaft sprechen und fragen, wie wir uns nach einem Scheitern verhalten sollten.

2. Die Botschaft: Teilhabe an Gottes schöpferischem Wirken

Gott, den wir im Glauben als den Schöpfer des Himmels und der Erde bekennen und dessen Schöpfung zu bewahren uns heute sehr am Herzen liegt, hat den Menschen als Mann und Frau erschaffen. Und nach dem Zeugnis der Bibel hat er beiden in ihrer Gemeinsamkeit und Polarität den Auftrag und die Fähigkeit gegeben, menschliches Leben zu zeugen. Die Kirche hält daran fest, dass jeder einzelne Mensch von Gott gewollt und geliebt ist und dass nur Gott selbst die Geist-Seele schaffen kann, durch die der Mensch persönlich und unvertretbar in einer Gottesbeziehung und Gottesunmittelbarkeit leben kann. Insofern ist jeder Mensch von Gott geschaffen. Mann und Frau aber sind in dieses Handeln Gottes in einer ganz eigenen Weise einbezogen. Sie haben Anteil am Schöpferwirken Gottes.

Für Menschen, denen Gott wenig oder nichts bedeutet, kann dieser Glaube der Kirche als theologisches Geschwätz oder ideologische Überhöhung eines naturhaften Vorgangs erscheinen. Selbst Christen tun sich mit diesem Glauben zuweilen schwer. Sie sind zwar überzeugt, dass Gott die Welt erschaffen hat, nehmen es selbstverständlich an, dass diese Welt nicht gleich „fix und fertig“ ist, sind sich auch sicher, dass sie sich nach dem Willen des Schöpfers in einem fortdauernden Entwicklungsprozess befindet. Aber dass Gott beim Werden eines jeden Menschenkindes als Schöpfer unmittelbar „tätig“ wird – ein solcher Gedanke ist heute vielen Christen fremd. Und doch hat diese Glaubenswahrheit eine nicht zu überschätzende Bedeutung: Mit zwei Menschen, die einem Kind das Leben schenken, verbündet sich der Schöpfergott und lässt beide an einem seiner ursprünglichen Schöpfungsakte teilhaben. Das gibt dem menschlichen Zeugungsakt eine hohe Würde und legt den Eltern eine schwere Verantwortung auf.

Kann denn Gott, der den Lebensgrund für den Menschen – fast möchte ich sagen „eigenhändig“ – legt, kann ER denn anders, als auf die besten Voraussetzungen für Leben und Entwicklung des Kindes bedacht sein? Und ist nicht die Liebe zwischen Vater und Mutter und die Liebe der Eltern zum Kind eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass das menschliche Leben gelingt? Jene Liebe in der Ehe, in der sich Mann und Frau in Ausschließlichkeit und auf Dauer aneinander binden? Es ist immer ein Widerspruch zum Willen des göttlichen Schöpfers, ein Kind vor der Geburt oder nach der Geburt abzulehnen oder auch nur zu vernachlässigen.

Selbst wenn die Zeichen der Zeit ein ganz anderes, vermeintlich moderneres Verständnis von Familie signalisieren, selbst wenn im Namen einer fortschrittlichen Entwicklung die Ehe nach christlichem Verständnis als überlebtes bürgerliches „Auslaufmodell“ verunglimpft wird: Der Liebeswille Gottes zu jedem wachsenden und neu geborenen Menschenkind lässt sich nicht beirren. Ehe, Elternschaft und Familie gehören unauflösbar zusammen. Dies vorzuleben und zu verkündigen ist weder altmodisch noch überholt; es ist im Blick auf unsere gesellschaftliche Wirklichkeit geradezu das Gebot der Stunde und wird von zahllosen Menschen ersehnt, die an der krisenhaften Situation leiden.

3. Die Frage: ... und nach dem Scheitern?

Leitbilder sind nötig. Ideale können begeistern. Gottes Ordnungen und Gebote sind Wegweiser zum Ziel.

Wir kennen aber auch unsere Gebrechlichkeit. Alltag und Gewohnheit nivellieren. Auch gute Ehen sind nicht vor Krisen geschützt. Wer die eine oder andere durchgestanden und überwunden hat, ist gestärkt und kann dankbar sein.

Was aber, wenn die Krise andauert und die Ehe zur Fessel wird? Hoffentlich sind dann vertrauenswürdige und ehrliche Freunde zur Stelle! Auf persönlichen Beistand kann niemand verzichten. Ich weise bei dieser Gelegenheit auf unsere Ehe- und Lebensberatungsstellen hin, bei denen jeder der Partner einzeln oder auch beide gemeinsam Hilfe erhalten können.

Und wenn dann die Ehe schließlich doch zerbrochen ist? Gerade denen, die nicht oberflächlich sind und es ehrlich gemeint haben, bringt dies viel Leid. Unmittelbar Betroffene brauchen dann vor allem verständnisvolle Nähe. Vorwürfe und Belehrungen über Grundsätze helfen nicht. Jeder der Partner – er wie sie – wird eine Zeit brauchen, bis er/sie in einer ruhigen und gründlichen Gewissenserforschung erkennt, inwiefern er/sie selber an der Schuld teil hat. Reue führt dann zur Vergebung, Vergebung zum Frieden – auch wenn damit der Weg in eine zweite Ehe nicht offen steht.

Ich bitte Sie alle, Brüder und Schwestern, stehen Sie den Frauen und Männern bei, die das Scheitern ihrer Ehe erleben mussten und sich als Alleinerziehende mit Liebe ihren Kindern zuwenden und unsere Achtung verdienen!

Auch wer an seinem Kind oder seinen Kindern schuldig geworden ist, muss zur Reue und Versöhnung finden können. Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, einen Mitmenschen zur Einsicht zu führen und ihm Mut zu machen, um Vergebung zu bitten.
Immer gilt: „Selig sind die Friedensstifter!“

Natürlich müssen persönliche Schicksale mit großer Diskretion behandelt werden. Aber wer erlebt hat, wie tragisch mancher Weg verlaufen ist, wird selber vorsichtig werden und aus der Erfahrung lernen, dass Vorbeugung besser ist als Heilung; er wird beherzigen, dass Schäden am besten behoben werden, wenn sie noch klein sind; sich erinnern, wie hilfreich eine Aussprache sein kann, wenn sie rechtzeitig geführt wird, und wie fruchtbar eine Beratung, wenn sie nicht zu spät gesucht wird.

Auch Jugendliche, die häufig Zeugen von scheiternden Ehen und Zerwürfnissen sind und zuweilen den Mut verlieren, eine Ehe auf Lebenszeit zu schließen, werden einerseits lernen können, sich gewissenhaft zu prüfen und nicht leichtfertig zu entscheiden, aber hoffentlich auch ermutigt – nicht zuletzt im Vertrauen auf Gottes Gnade –, den Bund fürs Leben zu schließen.

Liebe Schwestern und Brüder!

Ich sprach von den Gegebenheiten, unter denen Christen heute in Ehe und Familie zu leben haben. Unter denselben Verhältnissen leben auch die, die zur Ehelosigkeit um des Himmelreiches berufen sind.

Verheirateten und den zur Ehelosigkeit berufenen Priestern und Ordenschristen ist gemeinsam, dass sie zur Treue ohne Widerruf verpflichtet sind, aber auch auf die Gnade Gottes vertrauen dürfen.

Lassen Sie sich nicht beirren: Solche Treue ist kostbar! Ich bitte alle, das Zeugnis des Glaubens in der durchhaltenden Treue zu geben. So können wir uns gegenseitig auf dem Weg der jeweiligen Berufung stärken und helfen.

Für uns alle gilt das Wort des Apostels Paulus: „Gott wird euch festigen bis ans Ende, so dass ihr schuldlos dasteht am Tag Jesu, unseres Herrn. Treu ist Gott, durch den ihr berufen worden seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unseres Herrn.“ (1 Kor 1,8f)

Möge uns in dieser österlichen Bußzeit die Erfahrung der Gnade geschenkt sein.
So segne Sie der gute und treue Gott: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Berlin, im Februar 2007 Ihr Erzbischof

+Georg Cardinal Sterzinsky