Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2009

„Die Hoffnung lässt nicht zugrunde gehen“

Liebe Schwestern und Brüder!

I
In der breiten Öffentlichkeit wird in diesem Jahr noch vieler Ereignisse der Vergangenheit gedacht werden. Ich nenne beispielsweise den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, mit dem vor 70 Jahren der Zweite Weltkrieg begann, der millionenfaches Leid über die Völker Europas und der Welt brachte und schließlich zur Teilung Deutschlands führte. Der 1. September 1939 – ein schwarzer Tag!
Ich nenne sodann den Fall der Mauer vor 20 Jahren, den eine friedliche Revolution bewirkte und der zum Sturz der SED-Herrschaft führte und den Weg frei machte zur deutschen Einheit in einem sich vereinigenden Europa. Der 9. November 1989  - ein Tag herzlicher Freude!
Es gibt gute Gründe, an bedeutsame Ereignisse der jüngeren und jüngsten Geschichte zu erinnern und Zeugnisse zu bewahren, die Auskunft geben und die nachwachsende Generation informieren. Nur wer die Geschichte kennt, versteht die Gegenwart und ist imstande, die Zukunft zu gestalten.

II
Was bedeutet aber nun das Gedenkjahr, das unser Heiliger Vater, Papst Benedikt XVI., für 2008/2009 ausgerufen hat: das Paulusjahr? Anlass ist die Geburt des Apostels Paulus vor 2000 Jahren. Dieses Ereignis liegt ja doch weit zurück. Hat die Person bzw. Persönlichkeit des Apostels noch eine Bedeutung für die Gegenwart? Oder ist das Jubiläum wieder einmal ein Zeichen dafür, wie rückwärtsgewandt die Kirche ist und wie gering ihr Gegenwartsbezug?
Nein! Es geht vielmehr um den Apostel und sein Werk. Es geht um die Überlieferung, die Paulus empfing und durchdachte wie keiner vor ihm oder neben ihm. Es geht um die Botschaft, die er fruchtbar machte für die junge Kirche. Es geht um sein Verständnis des Evangeliums, das er verteidigte, auch in heftigen Auseinandersetzungen, sogar mit Petrus, dem Ersten der Apostel, für das er aber die Übereinstimmung und Zustimmung der Urapostel wie des hl. Petrus einholte. Es geht um die Lehre des Apostels, in der die Kirche die Wahrheit des Evangeliums Jesu für alle Zeit erkannte.

III
Bekanntlich ist Paulus, der nach eigenem Bekunden zunächst ein heftiger Verfolger der Christen war, vor Damaskus dem auferstandenen Christus begegnet. In diesem Erlebnis gründet seine Christuserkenntnis. Nach weiterem Bemühen um das Verständnis dessen, was von Jesus überliefert ist: dessen, was er gepredigt, getan und erlitten hat, was Gott durch ihn und an ihm vollbracht hat, wird Paulus zum Missionar, der durch viele Länder reist und Gemeinden gründet. Paulus – der Völkerapostel!
In den Briefen, die er aus aktuellen Anlässen an die Gemeinden schreibt, stellt er den Inhalt der Predigt und der Lehre zwar nicht systematisch dar, erfahren wir aber viel von dem, was der Apostel verkündigt hat.

Aus der fast unüberschaubaren Fülle möchte ich einige Anliegen aufgreifen und Euch, liebe Schwestern und Brüder, ans Herz legen.

1.  Was bedeutet es dem Apostel, Christ zu sein?
Er spricht von Christus Jesus als dem Herrn. In diesem Wort spricht er sein Bekenntnis aus. Christi Knecht zu sein, ist des Apostels und des Christen Würde.
So versteht er das Christsein: Christus zu dienen und darin das Heil zu erlangen. Sodann aber erlebt er auch, dass Christus durch seinen Geist – als heiliger Geist – in ihm, dem Apostel, und in allen Getauften lebt, so dass der Christ/die Christin in Wahrheit sagen kann: Christus in mir und ich in Christus. Auf diese Weise wird der Christ/die Christin von innen her nach dem Bilde Christi gewandelt und Christus immer ähnlicher. An die Galater schreibt Paulus: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ Hier geht es um weit mehr als um eine moralische Qualität. Es geht um eine Christusverbundenheit, die man zu Recht als Christusmystik bezeichnet, eine Verbundenheit, die einer Gliedschaft in einem Leibe gleichkommt. Jeder Christ/jede Christin ist ein Glied am Leibe Christi. Dem entspricht, dass nach dem Verständnis Pauli die Kirche nicht nur eine (Ver)Sammlung von einzelnen Christen/ Christinnen ist, sondern ein Leib, dessen Haupt Christus ist: die Christen/Christinnen sind ohne Christus nichts, und Christus will nicht ohne die Gemeinschaft der Christen/Christinnen sein.
„Christ, erkenne deine Würde!“, wird einmal Papst Leo der Große ausrufen.

2.  Wie besteht der Christ die Schwierigkeiten des Lebens?
Der Apostel selbst  hat es in seinem missionarischen Dienst nicht einfach gehabt. Was ihm da widerfahren ist, können wir nur mit Erschütterung hören, und es ist nur zu bewundern, dass er all dem nicht ausweicht und wie er es übersteht und besteht. Manches berichtet die Apostelgeschichte, anderes schreibt er selbst in den Briefen an die Korinther. Von Verfolgung und Flucht, Steinigung und Auspeitschung, Anklage, Ablehnung und Schiffbruch ist die Rede.
Der Seelsorger Paulus nimmt auch die Lebenswirklichkeit der Gemeinden wahr. Er weiß, was sie durchzustehen haben – einerseits und setzt auf die Kraft der Hoffnung anderseits. Deshalb mahnt er sie immer wieder, wie beispielsweise die Kolosser: „Lasst euch nicht abbringen von der Hoffnung, die das Evangelium euch schenkt!“ (Kol 1,23)
Die Hoffnung ist Rettungsanker nicht nur für den Eventualfall; wenn etwas passieren sollte, was eigentlich nicht passieren dürfte und normalerweise auch nicht passiert. Ohne Hoffnung ist das Leben in keinem Fall zu bestehen. Das mag realistisch klingen.
Der Apostel schätzt die Hoffnung aber viel höher ein. Er schreibt an die Römer: „Wir rühmen uns  unserer Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes“. Wie ist diese Hoffnung begründet? Zunächst folgt keine Begründung, sondern eine Überraschung: „Wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis“. Ist das noch logisch? Der Apostel sieht folgenden Zusammenhang: „Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld Bewährung, Bewährung aber Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen. Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,3-5). Das also ist die Begründung: Die Hoffnung ist verbunden mit der Liebe, die aus dem Heiligen Geist kommt. Darum kann sie nicht zugrunde gehen lassen.
Stimmt das mit unserer Lebenserfahrung überein?
André Gide, der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger, hat es einmal als Lebensgesetz formuliert: „Wenn sich eine Tür vor uns verschließt, öffnet sich eine andere“ und als Lebenstragik bezeichnet „dass man auf die geschlossene Tür blickt und die geöffnete nicht beachtet“. Es ist wohl so, dass Trauer und Ärger über die geschwundene Möglichkeit mehr Kraft und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen als das Ausschauen nach neuen Wegen und Lösungen. Im Klagen sind wir Meister.
Warum wohl? Weil uns Hoffnung fehlt? Fehlt sie uns, weil die Liebe fehlt? Die Hoffnung, die aus der Liebe kommt, die uns durch den Heiligen Geist ins Herz gegeben ist, lässt nicht zugrunde gehen. Solche Hoffnung setzt nicht auf das, worauf wir es abgesehen haben, sondern geht die Wege, die Gott führen will.

3.  Und was ist im äußersten Ernstfall?
Der Apostel spielt Möglichkeiten des Ernstfalls durch und räumt ein, dass wir „den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt sein“ können und glaubt doch, dass wir „all das überwinden durch den, der uns geliebt hat“ und schreibt mit der Gewissheit: „Weder Tod noch Leben, weder Engel und Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder der Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f)

Vor zwei Jahren haben wir dieses Wort des Völkerapostels in einen Gedenkstein auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen einmeißeln lassen. Der Stein wurde in der Form eines ungewöhnlichen Kreuzes zum Gedenken an mehr als 700 katholische Geistliche aus Polen, Deutschland und weiteren europäischen Nationen errichtet, die an diesem Ort gelitten haben, gefoltert und umgebracht wurden, gemeinsam mit Tausenden Menschen vieler Nationen und religiöser Bekenntnisse, unter ihnen viele Juden, die Opfer des millionenfachen Mordes an diesem Volk geworden sind.
Sind diese Menschen und andernorts nicht noch unübersehbar viel mehr dem Rassenhass, der blinden Ideologie und der brutalen Gewalt nicht doch erlegen?
Wir Christen dürfen es nicht dulden, dass die Gräueltaten des NS-Regimes in den KZ- und Vernichtungslagern geleugnet werden – sei es aus den Reihen alter und neuer Nazis, sei es sogar durch „Verirrte“ in den eigenen Reihen. Deshalb gehört es zu den guten Traditionen, dass seit Jahrzehnten an jedem Palmsonntag auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen der Kreuzweg gebetet wird, um im Lichte des Leidens und Sterbens Jesu aller Opfer der Naziherrschaft und der furchtbaren Schuld ihrer Folterer und Henker zu gedenken.
„Weder Tod noch Leben ... können uns trennen von der Liebe Christi“. Das Wort ist keine Verharmlosung des Leidens Unschuldiger. Es ist ja geschrieben nach der ungerechten Verurteilung und Hinrichtung Jesu am Kreuz, aber auch im Licht seiner Auferstehung; deshalb zum Erweis, dass Gottes Liebe stärker ist als der Hass, der zu seinem Tod führte. So abscheulich der Hass war, der in Gaskammern morden ließ. Von Gottes Liebe wurden die Ermordeten nicht getrennt.

IV
Mit Bedacht habe ich, meine Schwestern und Brüder, in diesem Hirtenbrief nicht von den aktuellen Ereignissen der letzten Wochen gesprochen und auch nicht von unseren
konkreten Vorhaben im Paulusjahr. Um in den Verwirrungen und Irritationen der Aussöhnung mit den Bischöfen der Priesterbruderschaft Pius X. und beim Skandal der Leugnung des Holocaust zur Klärung zu verhelfen, ist wohl ein anderes Forum zu suchen als die Gottesdienstgemeinde. Und zu unseren pastoralen Planungen will ich mich gerne äußern, wenn die Zeit gekommen ist.

Heute geht es mir um eine grundlegende Botschaft. Ich bin ganz sicher: Je tiefer wir die Botschaft des Apostels Paulus erfassen, umso fester und innerlicher werden wir mit Christus verbunden sein, umso froher und selbstloser werden wir als Christen leben, um so mehr werden wir das Evangelium unter die Menschen bringen und der Welt etwas von dem geben, was sie dringend braucht: Hoffnung und Zuversicht.

Dabei begleite Sie, liebe Schwestern und Brüder, der Segen des allmächtigen und gütigen Gottes: des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Dies wünscht Ihnen von Herzen

Ihr Erzbischof
+ Georg Kardinal Sterzinsky

Berlin, am Aschermittwoch 2009