Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2010

"Warum ich in der Kirche bleibe"

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

I
„Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: die Kirche erwacht in den Seelen.“ Mit diesen berühmt gewordenen Worten begann Romano Guardini vor fast 90 Jahren einen Vortrag über den „Sinn der Kirche“. Und heute – denkt nicht mancher von uns: ‚Ach wenn es doch so wäre!‘? Es ist ja kein Geheimnis, dass die Kirche seit geraumer Zeit von vielen schwierigen Fragen, Problemen und Sorgen belastet ist: - weltweit, in ganz eigener Weise in Deutschland und in unserem Erzbistum. Auch von der Unklarheit, wer oder was sie ist.

„Warum bleibe ich in der Kirche?“ Mit dieser Frage trat einige Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar an die Öffent-lichkeit. Warum bleibe ich in der Kirche? - Diese Frage hat sich heute, vier Jahrzehnte später, nicht erledigt. Ist sie nicht im Gegenteil von trauriger Aktualität? Allein im Jahre 2008 haben in Deutschland über 120 000 Katholiken unserer Kirche mit amtlicher Erklärung den Rücken gekehrt. In einem einzigen Jahr 120 000 Menschen – das ist die Einwohnerzahl einer mittelgroßen deutschen Stadt.

Fragt man nach Gründen für den förmlichen Kirchenaustritt erfährt man: Sie reichen von der Höhe der Kirchensteuer über den Ärger an Personen, die die Kirche amtlich vertreten, bis zum Aufweis und der Erfahrung von Missständen in der Kirche. Seltener ist zu hören: Ich glaube nicht oder nicht mehr an Gott; warum also sollte ich in der Kirche bleiben?

II
1. Im Hintergrund steht immer die Frage, ob die ganz konkrete Kirche, die wir vor Augen haben und die wir erfahren, unseren eigenen Zielvorstellungen und den Erwartungen unserer Mitmenschen entspricht. Die Antwort ist ziemlich eindeutig: offensichtlich nicht! Aber wenn wir weiter fragen, ob diese unsere Kirche den Wünschen Gottes entspricht, werden wir dann nicht erst recht antworten müssen: leider nein! Hat doch sogar das Zweite Vatikanische Konzil diese Tatsache aufs neue ausdrücklich festgestellt: „Auch in unserer Zeit weiß die Kirche, wie groß der Abstand ist zwischen der von ihr verkündeten Botschaft und der menschlichen Armseligkeit derer, denen das Evangelium anvertraut ist.“ Und die Konzilsväter fügten hinzu, dass unter den Gliedern der Kirche, ob Kleriker oder Laien, sich im Laufe vieler Jahrhunderte immer auch Untreue gegen den Geist Gottes fand. (KW 43)

Wenn sich dieses schuldhafte Verhalten in der Vergangenheit der Kirche abspielte, schwächt die zeitliche Distanz die persönliche Betroffenheit. Wenn aber ein Skandal die Kirche der Gegenwart betrifft und sich gleichsam unter unseren Augen abspielt, z.B. als sexueller Missbrauch an einer katholischen Schule mitten in Berlin oder durch einen Pfarrer, dann spüren wir die Ungeheuerlichkeit sehr stark als Kirche, als Bistum, als gläubiger Katholik. Unabhängig vom Ergebnis der juristischen Untersuchungen müssen wir schon jetzt einen in seiner Tragweite schwer zu ermessenden Schaden feststellen und alles Fehlverhalten verurteilen und es dem Gericht auch unseres Gottes überantworten. Wir werden es aber nicht bei einer bloßen Verurteilung bewenden lassen können, ohne zugleich fürbittend vor unseren Gott hinzutreten; zuerst für die Opfer, dann aber auch mit der Bitte um Reue und Umkehr für die, die sich versündigt haben. Gerade die Bitte für die Schuldigen stößt bei vielen unserer Mitmenschen auf Unverständnis und Ablehnung, so als ob ein solches Gebet Schuld verharmlosen würde. Und darum erinnert euch an das Gebet, das der Herr uns zu beten gelehrt hat: „Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“.

Liebe Brüder und Schwestern, die Kirche Gottes und seines Sohnes Jesus Christus ist eine Kirche der Sünder. Das ist nicht die Festsstellung eines enttäuschten und verärgerten Christen. Es ist viel mehr eine Glaubenswahrheit, die die Kirche in ihrer zweitausendjährigen Geschichte immer wieder bekannt hat. Sie ist die Gemeinschaft, in die der Herr ruft, und zwar die Sünder ruft, damit sie sich bekehren und geheiligt werden – wohl wissend, dass sie immer wieder sündigen werden.

2. Wenn in der Öffentlichkeit, beispielsweise in Medien, positiv von der Kirche gesprochen wird, dann ist meist die Rede von ihrem caritativen Wirken, ihren Hilfswerken und dem Bemühen, gemeinsam mit anderen die Not in der Welt zu lindern: sei es nach Katastrophen wie gerade in Haiti, sei es im Einsatz, das alltägliche Elend zu lindern, sei es gemäß kirchlicher Soziallehre zu gerechter Staats- und Gesellschaftsordnung beizutragen. Da ist nicht die Kirche als Gemeinschaft von Sündern im Blick, vielmehr steht die Kirche, die Solidarität übt, im Vordergrund mit ihrem Dienst an der Welt und ihrem Beitrag zu Bildung und Kultur. Das alles ist gut und wichtig, ein gebotener Dienst der Kirche. Immer wieder rufen wir Bischöfe ja auch zu hochherzigen Spenden und zur Mitarbeit auf. Wir dürfen dankbar feststellen, dass unsere Aufrufe nicht ungehört bleiben. Niemand wird es uns deshalb übel nehmen, wenn wir diesen positiven Blick auf die Kirche schätzen. Jedoch sage ich klar: der Weltdienst der Kirche ist kein ausreichender Grund, in unbedingter Treue Glied der Kirche zu bleiben.

3.  Den Grund finde ich im Gnaden- und Heilswirken Gottes.  
Wer glaubt und sich taufen lässt, empfängt Vergebung der Sünden und ewiges Leben: das ist die Gemeinschaft mit Gott und mit denen, die bereits in dieser Gemeinschaft leben. Beides ist miteinander verbunden: die Gemeinschaft mit dem erlösenden Gott und mit den Erlösten.

Das Neue Testament drückt es in mehreren Bildern aus: Der Jünger Jesu ist wie ein Rebzweig am Weinstock, der Christus ist; aber er ist auch mit den anderen Rebzweigen verbunden. Davon kann er nicht absehen. Oder: der Getaufte wird Glied am Leib, dessen Haupt Christus ist; er hat aber eo ipso  Gemeinschaft mit den anderen Gliedern; würde er sich von ihnen trennen oder distanzieren, würde er sich vom Haupt, d.h. von Christus distanzieren und trennen. Oder: der Getaufte ist wie ein  lebendiger Stein am lebendigen Tempel, in dem Gott gegenwärtig ist. Würde er herausgebrochen, würde er im Ganzen fehlen, und zwar am Ort der Gegenwart Gottes.

Alle diese Vergleiche lassen noch offen, dass christliches Leben in verschiedenen Berufungen gelebt werden kann; dass es besser gelingen oder auch misslingen kann. Sie stimmen überein in dem, was der hl. Kirchenvater Cyprian so formuliert: „Der kann Gott nicht zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat.“

Der Getaufte kann also nicht sagen: Christus bleibe ich treu, aber von der Kirche löse ich mich, sie hat mich zu sehr enttäuscht. Das ist so unmöglich wie der Gedanke: ich bleibe im Lebensstrom, den ich von den Eltern empfangen habe, aber ich gehöre nicht mehr zur Familie.

Ohne Kirche können wir keine Gemeinschaft mit Christus haben.

4. Die Abwendung von der Kirche, die aus mancher Enttäuschung erwächst, liegt darin begründet, dass man Kirche gewissermaßen als idealtypische, geradezu überirdisch perfekte Gemeinschaft erleben möchte. Das wird sie nie sein. Jugendliche haben das Problem vor einiger Zeit im Schaukasten ihrer Gemeinde zur Sprache gebracht. Der Betrachter sah nichts weiter als – sich selbst: in einem großen Spiegel, versehen mit der Aufschrift: ‚Sieht so ein Christ aus?‘

Alle Wertschätzung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die Kirche der Sünder ist, in der Gott sein Werk der Erlösung vollbringt; mehr noch: an die er es  gebunden hat.
Diese ganz konkrete Kirche, die für manchen zum Ärgernis wurde und wird, soll nach seinem Willen das sichtbare Zeichen seiner bleibenden liebenden und erlösenden Ge-genwart durch die Zeiten bleiben. Hier findet Vergebung der Sünden und Versöhnung mit Gott statt. Zugespitzt gesagt: seine heilende Gnade hat er „einem Haufen von Sündern“ anvertraut.

Darum bleibe ich in der Kirche. Eben nicht, weil sie eine elitäre Gesellschaft von moralisch hochstehenden Persönlichkeiten ist, sondern dieser „Haufen von Sündern“. Und weil auch ich ein Sünder bin, darum ist sie meine Kirche, in der ich bleibe, weil einzig sie mir Hoffnung und Zukunft gibt. Kirche der Sünder für Sünder -, um Kirche der Heiligen zu werden.


III
In der amtlichen Rechtssprache werden die Kirchen zu den Religionsgemeinschaften gezählt.

Das schafft für die staatliche Ordnung in vielen Fällen Klarheit.

Für das theologische Verständnis der Kirche reicht der Begriff Religionsgemeinschaft nicht aus. Denn Kirche ist nicht eine Gemeinschaft, die entstanden wäre, weil Menschen mit einer gemeinsamen religiösen Überzeugung sich aus Zweckmäßigkeitsgründen nach Art eines gemeinnützigen Vereins zusammengeschlossen und eine rechtliche Ordnung gegeben hätten.

Die Kirche ist viel mehr: sie ist „in Christus das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit“ (II. Vat. Konzil).

Sie ist das Wurzelsakrament, aus dem alle anderen Sakramente erwachsen: Zeichen der heilenden und rettenden Nähe Gottes.

Diese Kirche sollte ich verlassen? Weil es in unseren Reihen noch immer so viel Unglaubwürdiges, so viel Schuld gibt? Weil sie immer noch der „Haufen von Sündern“ ist, die der Vergebung bedürfen?  Diese Kirche verlassen,  die Gott um unseres Heiles willen als Gemeinschaft von Sündern bejaht, um aus ihnen mit Gott und Mitmenschen Versöhnte zu machen?

So sehr wir auch Kirche der Sünder sind – so ist die Gnade Gottes auch jetzt schon siegreich. Siegreich in Jesus Christus, dem Sieger über Sünde und Tod, wie es gerade in der Feier der österlichen Geheimnisse aufleuchtet und in seiner Auferstehung zum Hoffnungszeichen wird.

Das Sieghafte an dieser Gnade und dem Erbarmen unseres Gottes ist aber auch schon erkennbar im Leben so vieler Menschen, die wir als heilige Frauen und Männer verehren, die mit uns gewöhnlichen Sündern zur Gemeinschaft dieser Kirche gehören. Das ist verwunderlich und tröstlich zugleich. Ich muss mir nicht für die Zukunft eine ideale Kirche erst erträumen. Ich kann getrost in der realen Kirche bleiben, die eine Kirche von Sündern ist, denn der Herr ist nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder, und Er hat bereits unübersehbar viele geheiligt, die treu geblieben sind. Uns allen zum Trost.

Schwestern und Brüder,
ich wünsche Ihnen und allen in der Gemeinde eine fruchtbare österliche Bußzeit und eine gnadenreiche Feier der österlichen Geheimnisse.

Ihr Erzbischof

+ Georg Cardinal Sterzinsky

Berlin, am 1. Februar 2010