Homilie von Bischof Joachim Wanke, Erfurt

Liebe Schwestern und Brüder,

„Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.“ Auf den ersten Blick scheint dieser Text in diese Stunde zu passen. Der Herr verheißt denen, die ihre Lebenslast getragen haben, das Ausruhen in der Ewigkeit.

Aber ist das auch wirklich der Sinn dieser Worte? Hält unser Herr für seine Jünger nur eine Ruhe bereit, die erst in der Ewigkeit geschenkt wird? Wir müssen genauer auf unseren Evangelientext schauen. In dem Wort Jesu wird die verheißene Ruhe durch ein Zitat aus dem Propheten Jeremia näher erklärt. Jeremia forderte (übrigens vergeblich) sein Volk auf, nach den bewährten Pfaden der Vorzeit zu fragen, nach dem Weg zum Guten Ausschau zu halten: „So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele“.

Das ist eine Heilsverheißung. Hier geht es nicht um Ruhe nach dem Tode oder um individuellen Seelenfrieden, sondern um die Zusage, dass der Gerechte sich in Gott geborgen wissen kann. Keine Plage, keine Last, keine Anfechtung kann ihn Gottes Schutz entreißen. Eben das wird nun von Jesus denen zugesagt, die ihm nachfolgen, die in seinen Sohnesgehorsam gegenüber dem Vater hineinwachsen und die wie er „gütig“ werden und „von Herzen demütig“. Man könnte die Worte Jesu also so verstehen: So werdet ihr, meine Jünger, das erlangen, von dem der Prophet sprach: Ruhe für eure Seele. Dann wird euer Joch, werden die Herausforderungen eines christlichen Lebens leicht und nicht drückend. Denn dann wisst auch ihr, was ich weiß: dass dem Vater alles möglich ist.

So ist die Verheißung der Ruhe, die der Herr den bereitwilligen Lastträgern zuspricht, als eine Verheißung zu verstehen, die schon die Gegenwart bestimmt, nicht erst die Ewigkeit.

Erzbischof Georg Sterzinsky war ein Lastenträger. Er hat bereitwillig sein Joch auf sich genommen: die dienstlichen Pflichten, die körperlichen Beschwerden, die wechselnden Herausforderungen und die bei der Arbeit im Weinberg des Herrn nicht ausbleibenden Enttäuschungen.

Man könnte das Bild gebrauchen von der Ruhe, die bekanntlich im Innern eines Wirbelsturms herrscht: Inmitten der Stürme und all der Turbulenzen, die die Dienstjahre für unseren Mitbruder bereit hielten – es war in ihm eine letzte Sicherheit, die er selbst gern in die Worte fasste: „Vertrauen und Gelassenheit, Gehorsam und Ergebung“. Ich kann das bezeugen aus der persönlichen Kenntnis seiner Person heraus, aus einer langen und – wenn man das bei einem ostpreußischen Charakter überhaupt sagen kann – freundschaftlichen Verbundenheit mit ihm, von seiner Heiligenstädter Vikarszeit an bis hinein in die letzten Jahre seines Dienstes hier in Berlin. Gott war in der Tat für ihn der „immer Größere“, und darum gab ihm das Wissen, von diesem Gott in Dienst genommen zu sein, eine letzte Sicherheit und Gewissheit, eben: eine Ruhe der Seele, die keine noch so stürmische Situation erschüttern konnte.

Als er damals vor 21 Jahren, am 9. September 1989, hier in der Kathedrale ins Amt des Berliner Bischofs eingeführt wurde, war nicht absehbar, was an Problemen und Aufgaben auf ihn warteten. Was von ihm zu bewältigen war, über die normalen Aufgaben des Bischofsamtes hinaus, ist in den letzten Tagen eingehend dargestellt und gewürdigt worden. Das muss jetzt nicht wiederholt werden.

Aber schauen wir noch einmal auf die großen Linien dieser Biographie: Welche Gegensätze prallen hier aufeinander, welche oft dramatischen Veränderungen mussten hier zusammengehalten werden. Aus Ostpreußen in die unvertraute Fremde, vom beschaulichen Thüringen in die plural-bunte Großstadt; Schrecken des Krieges mit nachfolgenden Notzeiten und Zeiten des Aufbauens und Konsolidierens, und dann wieder die Zusammenführung von Ost und West mit ihren so unterschiedlichen Einfärbungen und Mentalitäten; Seelsorge unter den Bedingungen eines staatlich verordneten Atheismus und dann in einer liberal-offenen Gesellschaft, die weithin Gott vergessen hat.

Angesichts dieser Biographie erahnen wir, wie kostbar diese Zusage unseres Herrn ist: in den Turbulenzen dieser Zeit Ruhe, sprich: Sicherheit und Geborgenheit, letzte Heilszuversicht zu gewinnen für unsere Seele.

Erzbischof Georg Sterzinsky ist dies geschenkt worden. Und das ist umso erstaunlicher, als er mit Recht im Nachruf des Erzbistums als ein Mann der Ungeduld charakterisiert wurde. Von meiner Kenntnis seiner Persönlichkeit kann ich das durchaus bestätigen. Freilich war es eine Ungeduld, der es um die Sache des Reiches Gottes ging: dass dieses Reich in den Herzen der Menschen Wurzeln fassen möge, wachsen und Früchte der Gottes- und Menschenliebe zeitigen möge.

Für mich war und bleibt unser verstorbener Mitbruder und Bischof im letzten ein „Pfarrer“ im besten Sinne des Wortes. Nicht von ungefähr waren, wie er mir selbst einmal sagte, seine Jahre als Pfarrer in Jena damals in grauer DDR-Zeit seine wohl schönsten Jahre. Dort konnte er sein, was er sein wollte: ein Seelsorger, der Menschen zu Christus führt.

Darum möchte ich ihm heute im Namen aller, die hier in der Kathedrale und im Bistum und darüber hinaus für ihn beten, Dank sagen. Er hat die Aufgabe eines Seelsorgers in großer Geduld und unter vielen Bedrängnissen treu ausgefüllt: Er hat das Volk Gottes genährt durch die Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier der heiligen Sakramente, er hat den Hirtendienst ausgeübt und geholfen, dass sich die Gläubigen nicht verlaufen, falschen Ideologien, damaligen und heutigen, ihr Ohr schenken und er hat sich nicht gescheut, auch für Einzelne da zu sein, wenn sie Zuwendung, Stärkung und Beistand brauchten.

Wir haben Grund, Gott für diesen Priester und Bischof zu danken. Er ist selbst beim Herrn in die Schule der Nachfolge gegangen und hat gelernt, das ihm auferlegte Joch zu tragen – und ist dabei „gütig“ geworden und „von Herzen demütig“, auch wenn es manchmal eine Güte war, die im Mantel der Ungeduld und im Drängen zu schneller Entscheidung und klaren Entschlüssen daherkam. Aber ist diese heilige Ungeduld und der drängende Eifer, der sich mit Selbstlosigkeit und einer tiefen Demut vor der Freiheit des anderen paart, nicht auch beim Herrn selbst zu finden?

Bischof Georg soll mit dem Zeugnis seines Lebens und Dienstes unter uns nicht vergessen sein, weder bei uns in Thüringen noch hier im Erzbistum. Lasst uns wie er unsere Herzen in allen Stürmen dieser Zeit festmachen in dem, der auch uns in seine Nachfolge, in seinen Dienst gerufen hat. Amen.