Fastenhirtenbrief 2012

Zeugen der Liebe Gottes

Liebe Schwestern und Brüder,

gemeinsam mit Ihnen begebe ich mich nun zum ersten Mal als Ihr Bischof auf den Weg durch die soeben begonnene Fastenzeit, die uns innerlich erneuern und auf das freudige Fest der Auferstehung Jesu Christi, unseres Herrn, vorbereiten möchte. Mit Blick auf diese heiligen vierzig Tage fragt sich so mancher von uns: Wie kann ich die Fastenzeit als Zeit der Umkehr, der Buße und Erneuerung für mich und für die Menschen in meinem Umfeld, in der Familie, der Arbeit und in unseren Gemeinden fruchtbar und sichtbar werden lassen? Wie können wir in dieser Zeit ein Segen für unsere Mitmenschen sein (Gen 12,2)? Viele fragen außerdem weiter und tiefgründiger: Wo kann ich Gott heutzutage besonders begegnen, wirklich erfahren, damit er mich auf meinem Lebens- und Glaubensweg bestärkt und ermutigt?

Tatsächlich ist dies in unseren bisweilen stürmischen und unruhigen Zeiten kein leichtes Unterfangen. „Es gibt eine Schwerhörigkeit Gott gegenüber, an der wir gerade in dieser Zeit leiden. Wir können ihn einfach nicht mehr hören – zu viele andere Frequenzen haben wir im Ohr“, bringt unser Heiliger Vater, Papst Benedikt XVI., dessen Besuch in unserem Erzbistum uns allen in guter und frischer Erinnerung ist, dieses Gefühl zum Ausdruck. (Vgl. Papst Benedikt XVI., Predigt bei der Eucharistiefeier auf dem Freigelände der Neuen Messe in München-Riem am 10.9.2006, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174, S. 38–39.)

Tagtäglich sehen wir uns denn auch einer riesigen Flut von Informationen, zumeist Hiobsbotschaften, ausgesetzt: Krise reiht sich an Krise, Katastrophen, Konflikte und Kriege, und besonders auch in Berlin hohe Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, Jugendkriminalität, wachsender Druck auf Familien … Vielen Menschen, die von solchen und anderen Schicksalsschlägen betroffen sind, durfte ich in den vergangenen Monaten begegnen und von ihren Nöten erfahren. Ihre Schicksale berühren mich sehr und machen betroffen. Jeder hat seine individuelle Geschichte zu erzählen. Leicht fällt es da oftmals nicht, an den liebenden und nahen Gott zu glauben und Worte des Trostes zu finden, die weder leer noch hohl klingen. Mir persönlich führen diese Lebensgeschichten lebendig vor Augen, vor welch großen Herausforderungen unsere Gesellschaft und unsere Kirche steht.

Bedrückend ist in diesem Zusammenhang vor allem die weiterhin hohe Zahl der Arbeitslosen in Berlin, Brandenburg und Vorpommern. Viele von uns stehen vor der Aufgabe, eine dauerhafte Anstellung zu finden, um sich und ihren Familien ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Hier gilt immer noch, was uns der selige Papst Johannes Paul II. über die Bedeutung der Arbeit für jeden Menschen so nachdrücklich und überzeugend eingeschärft hat: „Die Arbeit ist eine Wohltat für den Menschen – für sein Menschsein–, weil er durch die Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen Bedürfnissen anpasst, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermaßen ‚mehr Mensch wird‘“. (Papst Johannes Paul II., Enzyklika Laborem Exercens, Nr. 9.) Die Arbeit reduziert sich nicht allein auf den Lohn, „der Mensch lebt nicht nur von Brot“ (Lk 4,4). Ein menschenwürdiger Arbeitsplatz gibt den Beschäftigten Anerkennung, er bindet den Einzelnen in die Gemeinschaft ein. Er schafft für den arbeitenden Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Gefühl, von der Gesellschaft und anderen Menschen gebraucht zu werden. (Papst Johannes Paul II., Enzyklika Laborem Exercens, Nr. 10.) Menschenwürdige Arbeit tut unseren Seelen gut.

In der Fastenzeit sind wir alle dazu aufgerufen, die Nächstenliebe und den sich darin zeigenden Gemeinschaftssinn im Alltag zu leben; sie für andere, insbesondere für die Hilfsbedürftigen und in Not Geratenen, erfahrbar zu machen. So wirken wir erfolgreich und überzeugend Egoismen und wachsender Vereinsamung, selbst in einer großen und lebendigen Stadt wie Berlin, entgegen. Wir sind keine Inselbewohner! Jeder Einzelne von uns ist von Gott gewollt und geliebt: „Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen und die Hügel zu wanken beginnen, meine Huld wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht der Herr, der Erbarmen hat mit dir“ (Jes 54,10). Gott, der in sich und für uns Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiliger Geist ist, beruft uns zum Miteinander, nicht zum Gegeneinander. Dies gilt für uns Christen genauso wie für unsere vielgestaltige Gesellschaft als Ganzes, damit mitmenschliche Beziehungen nicht für immer auseinanderbrechen.

Liebe ist niemals für sich allein. Der Erste Johannesbrief sagt es geradeheraus „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16). Weil Gott die Liebe ist, möchte er sich mitteilen und sich an uns verschenken. In der gemeinschaftlichen Feier der Eucharistie geschieht das auf dichteste und zugleich geheimnisvolle Weise. Daher bringt uns die gelebte und erfahrene Nächstenliebe einer Antwort auf die eingangs gestellte Frage näher: Wo können wir Gott begegnen? Gerade in lebendigen Werken der Nächstenliebe begegnen wir Gott und können uns von seiner Liebe beschenken lassen. Dort wo Menschen Hilfsbedürftige unterstützen, finanziell oder durch Besuche von Kranken, Einsamen und Alten, in unterschiedlichsten kirchlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern, erfahren Menschen diese Liebe hautnah. Die Liebe zeigt sich bisweilen in kleinen Gesten, z. B. indem wir uns für die Nächsten mehr Zeit nehmen, aber auch ganz konkret in den zahlreichen Initiativen unserer diözesanen Caritas.

Eine von ihnen möchte ich heute besonders nennen: Es verdeutlicht – und ich füge hinzu: leider – nur allzu sehr das Thema der diesjährigen Caritas-Kampagne „Armut macht krank“. Rund 11.000 Menschen leben in Berlin auf der Straße. In der Caritas-Ambulanz für Wohnungslose am Bahnhof Zoo erhalten sie kostenlose Hilfe. Woche für Woche lassen sich dort 100 Patienten von einem Team aus Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern sowie ehrenamtlichen Helfern behandeln. Nachdem der Berliner Senat die Zuschüsse gestrichen hat, muss die Ambulanz ab diesem Jahr allein aus Spendenmitteln finanziert werden. Sicher gilt hier, was eine hilfsbedürftige Frau während meines Besuchs einer anderen Caritaseinrichtung unseres Bistums für die dort erfahrene Unterstützung schlicht und zugleich tief so ausdrückte: „Gut, dass es euch gibt!“ Kann es für uns Christen schönere Worte der Anerkennung geben, die uns zugleich bestärken, unseren Dienst weiter fortzusetzen?

Wo Menschen Gottes Liebe in Menschenliebe erfahren, möchte sogar der Suchende, der Fragende, der Kirche vielleicht sogar fernstehende Mensch, Gott begegnen, ihn in der Kirche treffen. Sein Interesse ist geweckt. Ich würde sogar behaupten, er ist ihm in diesen Menschen bereits begegnet. Umgekehrt macht ebenfalls der helfende Mensch diese innige Gotteserfahrung „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). So laden uns gerade diese Tage der österlichen Bußzeit verstärkt ein, wieder das Antlitz Christi im Gesicht des Mitmenschen zu entdecken und in ihnen Gott zu begegnen.

Die Fastenzeit ist somit kein Aufruf zur Weltflucht. Zwar zieht sich Jesus vierzig Tage in die Wüste zurück, um jedoch daraufhin umzukehren und mit all seiner Kraft durch Wort und Tat das Evangelium mitten unter den Menschen zu leben (Mk 1,12-13). So wie Jesus nach Zachäus Ausschau gehalten hat, so sind wir dazu berufen, nach den Suchenden, Fragenden und Hilfsbedürftigen in unserem Bistum, in unserer Stadt, Ausschau zu halten (Lk 19,1-10). Mit hörenden, sehenden und offenen Herzen vermögen wir alle, die Bedürfnisse und Nöte der Hilfesuchenden wahrzunehmen (1 Kön 3,9 und Lk 8,15). Wenn wir uns für Gott öffnen, für seine Liebe und Gnade, wenn wir uns selbst zurücknehmen, um ihn wirken zu lassen, werden wir für unsere Mitmenschen ein Segen sein; Zeugen der Liebe, zu der er alle beruft: "Der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind“. (Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelium Nuntiandi, Nr. 41.) Sie sind wie das „Salz der Erde“, das „Licht der Welt“, der Sauerteig“ (Mt 5,13-16; Mt 13,33), die man schmecken, sehen und daher erfahren kann. Auf diese Weise begeistern wir unsere Mitbürger für „die Hoffnung, die uns erfüllt“ (1 Petr 3,15). Denn, selbst wenn alles vergeht, „die Liebe hört niemals auf“ (1 Kor 13,8).

Vielleicht ist uns auf diese Weise ein authentischer Weg aufgezeigt, wie wir Gottes Liebe in der Fastenzeit besonders erfahrbar machen und erfahren. Diesen Weg beschreiten wir als Kirche gemeinsam, denn „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Gleichzeitig ermutige ich, in der Fastenzeit nicht in einen bloßen Altruismus, gar Aktionismus zu verfallen, bei dem wir uns selbst und Gott aus den Augen verlieren können. Vielmehr darf sich die innere Erneuerung im äußeren Verhalten widerspiegeln, geht dieser sozusagen voraus. Die Kirche bietet hier vielfältige Möglichkeiten an, in der Fastenzeit diesen Weg der inneren Erneuerung und Umkehr zu gehen. So hebt etwa der Herr selbst durch das Sakrament der Vergebung manch bedrückende Last von unseren Herzen, um mit neuer Kraft und Zuversicht Ostern und ihm, dem Auferstandenen, entgegenzugehen. Indem wir darüber hinaus z. B. den Kreuzweg gemeinsam mit anderen Gläubigen beten, können wir inniger in das Geheimnis unseres Glaubens eintauchen. Schließlich fasten manche in dieser Zeit intensiv. In treffenden Worten beschreibt der lange Zeit auch in Berlin lehrende Theologe Romano Guardini, was dabei vor sich geht: „Der Körper wird gleichsam aufgelockert. Der Geist wird freier. Alles löst sich, wird leichter. Last und Hemmung der Schwere werden weniger empfunden. Die Grenzen der Wirklichkeit kommen in Bewegung; der Raum des Möglichen wird weiter … Der Geist wird fühliger.“ (Guardini, Romano, Der Herr, Mainz – Paderborn 2009, S. 31 (Würzburg 1937).) Vor allem aber lässt uns die gemeinsame Feier der Eucharistie Gottes Liebe noch intensiver teilhaftig werden. Mögen uns diese Wege in der Fastenzeit ermöglichen, zu sich, den Anderen und Gott neu zu finden.

Liebe Schwestern und Brüder, ich wünsche uns allen, dass uns der Geist Gottes in diesen Tagen der Fastenzeit innerlich frei mache, unsere Herzen und unser Antlitz erneuere (Ps 104,30), unsere Freundschaft mit Gott und den Menschen stärke (Joh 15,9-17; Lk 11,5-8)! So erfrischt und verwandelt werden wir die Auferstehung Jesu Christi, Zeichen der Liebe Gottes zu uns Menschen, hoffnungsvoller, fröhlicher und glücklicher erfahren und feiern. Die Fastenzeit lädt uns alle ein, sich für Christus und den Nächsten gleichermaßen zu öffnen!

Dazu segne Sie alle der allmächtige Gott,
der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen

Berlin, am Fest der Darstellung des Herrn
Ihr

Rainer Maria Kardinal Woelki
Erzbischof von Berlin

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"Zeugen der Liebe Gottes"

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