„Glaubensfrohe Menschen geben der Kirche ein menschliches und konkretes Gesicht“

Interview mit Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki

zu den pastoralen Entwicklungen

1) Sehr geehrter Herr Kardinal Woelki, bei der Seelsorgekonferenz der Geistlichen und Laien im pastoralen Dienst am 18. April 2012 haben Sie in einem Referat zur pastoralen Entwicklung in unserem Erzbistum Stellung bezogen. Die kirchlichen Mitarbeiter/innen – so sagten Sie – sollen nicht Vorreiter der Resignation, sondern Pioniere der Hoffnung sein. Warum kann man trotz manchem Rückgang voller Hoffnung sein?

Wir können und dürfen voller Hoffnung sein, denn wir haben eine Frohe Botschaft für jeden Menschen: Die Liebe und Hoffnung Gottes, die in Jesus Christus Mensch geworden ist. Eine Botschaft für Frauen und Männer, Alte, Jugendliche und Kinder, Familien und Alleinstehende, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund… Sein Tod und seine Auferstehung bilden den tiefsten Grund unserer Hoffnung. Keine andere Religion oder Weltanschauung glaubt, denkt und handelt von diesem Horizont her. Wir alle erfahren und erleben tagein tagaus so viel Leid und Not in unserer Umgebung und in der Welt. Die Medien überfluten uns geradezu mit schlechten Nachrichten.

 Natürlich besteht die Gefahr der Verzweiflung, des Sich-Zurückziehens. Doch wer, wenn nicht wir Christen, können in solchen Situationen zu einem Licht in dunklen und ungewissen Zeiten werden? Wenn jedoch Christen heutzutage selber zweifeln, nicht so sehr von ihrem Glauben überzeugt sind, dann wird es zusehends auch schwieriger andere durch das gelebte Glaubenszeugnis zu begeistern. Vielmehr droht die Glaubensflamme bei größerem oder kleinerem Gegenwind auszugehen. Also "nur Mut" oder wie Christus sagt „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,10)

2) Bei den Veränderungen in der Pastoral wollen Sie besonders die einheitsstiftende Funktion der Eucharistie im Blick behalten. Wie kann das konkret aussehen? Was bedeutet das für kirchliche Standorte in der ländlichen Diaspora, wo am Sonntag keine Eucharistiefeier mehr stattfinden kann?

In der Eucharistie wird die Einheit der Gemeinde konkret. Denn wir alle haben in ihr teil an dem einen Brot und dem einen Kelch, die der Leib und das Blut Christi sind. Aus der Einheit mit ihm erwächst die Einheit der Kirche, die Einheit der Gläubigen untereinander. Dies galt vor 2000 Jahren. Dies gilt genauso heute. In unserer westlichen Welt schreitet die Individualisierung der Menschen nach wie vor voran. Wir finden eine Pluralität von Lebensstilen vor. Doch keiner ist eine Insel für sich allein. Und auch Kirche ist nicht nur meine je persönliche Beziehung mit Gott und Jesus Christus. Kirche ist gerade auch Gemeinschaft, Gemeinschaft der Christgläubigen, Gemeinschaft, die Eucharistie feiert.

Wir schauen in unserer Pastoral, was vital ist, was eine Zukunft hat und wo Neues sprießen kann. Von manchem werden wir uns verabschieden müssen, was bisher getragen hat, um Neuem Raum zu geben. Das Geheimnis von Tod und Auferstehung will konkret werden. Bisher selbstständige Pfarreien werden sich mit anderen bisher selbstständigen Pfarreien zusammenschließen müssen, um im größer gewordenen pastoralen Raum dem Evangelium eine konkrete Gestalt zu geben. Nicht mehr jede Gemeinde muss dabei - gerade auch angesichts zahlenmäßig kleiner werdender Gemeinden - das Gesamt der Pastoral vorhalten. Der größere pastorale Raum kann so für alle Entlastung bedeuten, ohne dass das konkrete gemeindliche Leben vor Ort, das noch vital ist, absterben müsste. Die das konkrete Gemeindeleben konstituierende Mitte dafür aber ist die sonntägliche Feier der Eucharistie an einem oder mehreren ausgewählten Orten der dann räumlich größeren Pfarrei. Denn dort zeigt sich die Einheit der Gläubigen in Christus als Miteinander und nicht als Gegeneinander.

Gut möglich, dass dies in Zukunft von uns größere Anstrengungen erfordert, um an der sonntäglichen Eucharistiefeier teilnehmen zu können. Doch zeigt dies, wie wichtig und kostbar uns die Eucharistie und die Teilnahme an ihr in Wirklichkeit sind. In Bezug auf die kirchlichen Standorte in der Diaspora überlegen wir, wie sich dort, wo es möglich erscheint, auch in Zukunft ein vitales Gemeindeleben trotz veränderter Umstände aufrechterhalten lässt. Sicherlich kann keine andere Gottesdienstform an die Stelle der sonntäglichen Eucharistie treten. Sie ist Quelle und Höhepunkt kirchlichen Lebens, wie es das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich festgehalten hat.

3) Sie haben sich dafür ausgesprochen, das Profil der Laien nicht in Abgrenzung vom Priesteramt zu entwickeln, sondern vom Allgemeinen Priestertum abzuleiten. Welche Aufgaben sehen Sie für haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende in der Kirche?

Mit zahlreichen Veranstaltungen wird in diesem Jahr des 2. Vatikanischen Konzils gedacht, welches vor 50 Jahren stattfand. Dieses versuchte einem Klerikalismus entgegenzuwirken, indem es den Laien größere Aufmerksamkeit widmete. Zu Recht. Es setzte dabei im Vergleich zur Zeit unmittelbar vor dem Konzil eine bedeutende Akzentverschiebung. Laien haben eine Sendung aufgrund von Taufe und Firmung. Das Dokument Apostolicam Actuositatem unterstreicht, dass Laien eine besondere Aufgabe haben, die Gegenwart im Glauben zu erneuern. Des Weiteren verweist das 2. Vatikanische Konzil darauf, dass die Laien eine besondere Verantwortung für „die Welt“ außerhalb der Grenzen der sichtbaren und institutionalisierten Kirche haben. Die Gedanken von einst besitzen auch für unsere Gegenwart eine bleibende und neu zu entdeckende Aktualität. Die Bedeutung der Laien wird noch zunehmen. Innerhalb der Kirche nehmen Laien schon heute Aufgaben und Ämter wahr, die in der Vergangenheit ausschließlich Klerikern vorbehalten waren.

Es erübrigt sich hier all die Aufgaben aufzuzählen, die Laien zum Wohl für Kirche und Gesellschaft schon heute wahrnehmen, hauptberuflich oder ehrenamtlich. Ihnen allen bin ich für ihre verantwortungsvolle und unterschiedliche Arbeit dankbar. In der Zeit nach dem 2. Vatikanischen Konzil kam es dazu, die gesteigerte Bedeutung der Laien mit einer quasiöffentlichen und damit quasiklerikalen Rolle innerhalb der Kirche zu identifizieren. Die weitere Perspektive der Laien als Evangelisatoren, die durch die Gnade der Taufe und Firmung die säkulare Welt ohne formalen Auftrag oder Amt mit der Frohen Botschaft verwandeln, geriet dabei leider allzu oft aus den Augen. Eher enttäuscht werden hingegen in Zukunft Laien werden, die ihre Aufgaben als Laien innerhalb der Kirche ausschließlich in politischen Dimensionen zu fassen versuchen, vorrangig in Analogie zu demokratischen Prozessen.

4) Angesichts des Priestermangels gibt es immer wieder die Frage, in welcher Form Laien am Leitungsamt partizipieren können. Sollten an Orten, wo kein Priester mehr tätig sein kann, Laien als Bezugspersonen oder Ansprechpartner oder Beauftragte eingesetzt werden?

Dass es einen Priestermangel gibt, sehen wir, wenn wir die heutigen pastoralen Strukturen zugrundelegen. Doch eine der entscheidenden Fragen ist, inwiefern diese Strukturen der Vitalität kirchlichen Lebens auch zukünftig förderlich sind. Nebenbei bemerkt: Selbst unter Fachleuten wird intensiv darüber diskutiert, was eigentlich mit dem Priestermangel tatsächlich gemeint ist und wie sich dieser beispielsweise zu einem etwaigen Gläubigenmangel verhält. Da sind vergangene Zeiten nicht unbedingt besser „ausgestattet“ bzw. gesegnet gewesen als die unsrigen. Der Priestermangel ist jedoch nur ein Faktor, warum Laien zukünftig eine größere Bedeutung in der Kirche zukommt. Es gibt noch andere Faktoren, die hier nur angedeutet werden können: Der Wettbewerb der Weltanschauungen und Religionen, eine neue Theologie der Laien, auch die Missbrauchsproblematik usw. und schließlich die theologische Dimension: Das Wirken des Heiligen Geistes.

In den Ländern des Südens können wir schon heute verschiedene Pastoralzentren beobachten, die nicht klassische Pfarreien sind, aber sehr stark durch die Hilfe von Laien getragen werden. Inwiefern uns solche Modelle inspirieren können – da ist zu schauen und zu überlegen, also auch beispielsweise die Frage, inwiefern Laien als Bezugspersonen oder Ansprechpartner eingesetzt werden können.

5) Sie haben sich für eine charismenorientierte Mitarbeitergewinnung eingesetzt. Was ist drunter zu verstehen?

Die Urkirche kennt ja bereits eine Vielzahl von unterschiedlichen Charismen, die im Miteinander zum Wohl der jeweiligen Gemeinde eingesetzt werden. Dies gilt für alle Mitarbeiter. Jeder von ihnen besitzt bestimmte „Charismen“. Wir könnten vielleicht auch sagen „Talente“. Manche sind vielleicht eher organisatorisch begabt, andere wiederum spirituell. Dies gilt es im Miteinander zu finden, diese Charismen - auch seitens der Diözese - zu sehen, zu fördern und für das Wohl der jeweiligen Gemeinde und das Erzbistum fruchtbar werden zu lassen.

6) Auf welche Veränderungen müssen sich Pfarreien und Seelsorger in Zukunft einstellen und welche Prognose liegt der Planung zu Grunde?

Insgesamt befindet sich die gesamte Gesellschaft in großen Umbrüchen und Veränderungen. Die Kirche bleibt bei diesen Prozessen nicht außen vor. Es wird im Einzelnen zu sehen sein, welche vitalen Zweige des Kirchenbaumes erhalten bleiben, wo wir Schwerpunkte setzen, um ein lebendiges und anziehendes Kirchenleben auch in Zukunft zu haben. Veränderungen sind nicht nur Prozesse, die sich in Strukturen widerspiegeln. Vielmehr handelt es sich um die ständige Umkehr, sich immer wieder auf das Wesentliche und Wichtige auszurichten, auf Gott und Jesus Christus. Veränderte Strukturen sollen diesem Zweck dienen. Wie wir das im Einzelnen angehen werden, ist ein Vorgang, in dem wir uns noch befinden und der nicht abgeschlossen ist.

7) Viele Gläubige haben die Sorge, dass durch die größeren pastoralen Einheiten der persönliche Kontakt und die Gemeinschaft verloren gehen sowie unzumutbar lange Wege notwendig werden. Haben Sie Verständnis für solche Sorgen? Und was kann dagegen getan werden?

Die Sorgen und Nöte der Menschen sind mir wichtig. Es ist ja eine zutiefst christliche Aufgabe, in den Menschen die Hoffnungspotentiale des Glaubens zu aktivieren, die ihr Leben gelingen lassen, die ihnen die Sorgen und Nöte nehmen, soweit das möglich ist. Zugleich lesen wir in der Heiligen Schrift, sich nicht übermäßig viele Sorgen zu machen. Ich denke auch das ist wichtig: Weder einer Vergangenheit nachzutrauern, die ihre eigenen Probleme hatte noch eine Zukunft zu ersehnen, die utopisch ist. Es hilft nicht, eine Struktur nur zu konservieren, da dies in den vergangenen Jahrzehnten so gehandhabt wurde. Dies erweist sich für die Zukunft des kirchlichen Lebens als hinderlich. Sicherlich ist es richtig, dass manch einer in Zukunft zusätzliche Anstrengungen unternehmen wird, um an einer Heiligen Messe teilzunehmen. Doch genau dadurch zeigt die konkrete Person, wie wichtig ihr die gemeinschafts- und einheitsstiftende Feier der Eucharistie tatsächlich ist. Persönliche Kontakte und Gemeinschaft sind genuin menschliche Anliegen.

Dies gilt aber heute schon genauso wie für die Zukunft. Jedem Christen steht es zunächst frei, die Grenzen zu setzen, innerhalb derer er sich in der Gemeinde engagieren möchte, persönliche Kontakte und Gemeinschaft sucht und pflegt. Es ist primär eine Aufgabe der Menschen in der konkreten Gemeinde – unabhängig davon ob klein oder groß – diese wichtigen Dimensionen des Miteinanders zu leben. Dies ist bei „offenen Pfarreien“ auch immer der Fall. Das kann man mit einem Masterplan nicht aufoktroyieren. Es ist schon heute eine wichtige Aufgabe darin zu sehen, inwiefern es gelingt, dass unsere Gemeinden offen und einladend sind, auch für diejenigen, die suchen, die in einer Gemeinde neu sind usw. Diese Offenheit gilt es hier und da neu zu entdecken.

8) Herr Kardinal, in den vergangenen Monaten haben Sie viele Pfarreien und kirchliche Einrichtungen besucht. Was macht Ihnen Sorge, was macht Mut?

Bei meinen zahlreichen Pastoralbesuchen habe ich eine Vielzahl von engagierten, lebendigen und glaubensfrohen Menschen getroffen, die gerne in der Kirche sind, diese mittragen und den Glauben leben wollen. Sie geben der Kirche ein menschliches und konkretes Gesicht. Diese Begegnungen empfinde ich als beeindruckend, meinen eigenen Glauben stärkend und ermutigend. Entscheidend wird die Herausforderung bleiben, inwiefern es unseren Christgläubigen gelingt, die „Welt da draußen“ für den Glauben zu begeistern. Hier gilt es hoffnungsvoll zu bleiben.